Geschichte von Raum, Zeit, Objekt und Ich

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Kann so zitiert werden: Ötsch, Walter: Zur Geschichte und Zukunft von Grundkategorien des ökonomischen Denkens: Raum, Zeit, Objekt und Ich, Arbeitspapier Nr. 9826 des Instituts für Volkswirtschaftslehre, Johannes Kepler Universität Linz, November 1998

Zusammenfassung

Ausgehend von einem kulturgeschichtlichen Ansatz wird ein Überblick über die historische Entwicklung der Kategorien des Raumes, der Zeit, des Objektes und des Ichs (des Subjekts) gegeben. Die Darstellung beginnt im frühen Mittelalter und reicht bis zur Wissenschaftlichen Revolution. Das Mittelalter wird als Epoche geschildert, wo die erwähnten Kategorien sowohl in der Wissenschaft als auch im Alltag in der Weise, wie wir sie gemeinhin denken, nicht verfügbar waren. Daraus ergeben sich wichtige Konsequenzen für die Art, wie über Wirtschaften theoretisch reflektiert wurde. Im Paper werden einige  Unterschiede in den Grundkategorien – im Vergleich zur Neuzeit –  und ihre Entwicklung bis zur Wissenschaftlichen Revolution geschildert. Im letzten Teil wird kurz die Frage aufgeworfen, ob sich die Geschichte dieser Konzepte ihrem Ende zuneigt und was das für die Zukunft bedeuten könnte.

1.  Einleitung

Wer sich mit der Geschichte von Wirtschaftstheorien beschäftigt, steht vor einem enormen Auswahlproblem: eine ungeheure Fülle von Informationen muß nach einfachen Schemata geordnet werden, will man einige systematische Aussagen über die wichtigsten Fragestellungen, Entwicklungsrichtungen, Haupttheoreme, … einer Periode treffen. Selbst eine Einigung darüber, welche Autoren z.B. eines Jahrhunderts als “große” Theoretiker in die Darstellung einzubeziehen sind, mildert das Problem kaum. Über jeden großen Theoretiker sind eine Vielzahl alternativer  Deutungsschemata verfügbar, die jedes für sich andere Aspekte und Bezüge thematisieren. Ein scheinbarer Ausweg, den selbst manche Dogmenhistoriker beschreiten, ist der Verzicht auf die genuine Deutung einer Epoche, in der nur noch “Vorläufer” einer heute als “wahr” oder “zutreffend” erachteten Theorie zu Wort kommen. Die Vergangenheit wird hier zur Gänze und ausschließlich durch die Brille einer Theorie heute betrachtet, deren historische “Vorläufer” in ihren – allerdings “beschränkten” – “richtigen” Aussagen geschildert werden.

Dieser “geschichtslosen Geschichtsschreibung” stehen eine Vielzahl von Darstellungsarten gegenüber, die sich auf Theorien und methodische Standards beziehen, die in den Geschichtswissenschaften üblich sind. Vereinfacht können wir drei Arten unterscheiden. Sie werden hier idealtypisch als Alternativen einander gegenübergestellt, wenngleich sie sich in konkreten Darstellungen überschneiden und in wichtigen Teilbereichen ergänzen.

(1) Ereignisgeschichtliche Darstellungen knüpfen an historische “Fakten” an, z.B. an die Entwicklung der Wirtschaft (mit Referenz auf die Wirtschaftsgeschichte), der Politik (politische Geschichte) oder von wichtigen wirtschaftlichen Institutionen (z.B. Rechtsgeschichte).

(2) Ideengeschichtliche Darstellungen beziehen sich demgegenüber auf einen Befund, der nicht direkt an “Fakten” im obigen Sinne identifizierbar ist. Hier wird die Geschichte der ökonomischen Theorie oft in den Kontext einer allgemeinen Ideengeschichte mit besonderer Bedeutung der Geschichte der Philosophie gestellt,[1] manchmal auch im Zusammenhang mit Entwicklungen in anderen Wissenschaften, wie der Physik[2] oder der Biologie (wie bei manchen evolutorischen Ansätzen).

(3) Kulturgeschichtliche Darstellungen beziehen sich demgegenüber weniger auf die Philosophiegeschichte, sondern auf mehr allgemeine kulturelle Trends, die den “Rahmen” für die Entwicklung von Wirtschaftstheorien abgeben. Beispiele sind der sozio – ökonomische Ansatz von Karl Polanyi, wo die Entstehung der Englischen klassischen politischen Ökonomie vor dem Hintergrund einer umfassenden “Transformation” der Gesellschaft erörtert wird[3], Foucaults Analyse der Physiokraten im Kontext der gesellschaftlichen Bedeutung des Tableau–Begriffs des 18. Jahrhunderts[4] oder Rothbards Darstellung der Entwicklung ökonomischer Theorien im Rahmen eines Neo–österreichischen Ansatzes.[5] Theorien dieser Art können dem weiten Kreis der “Kulturwissenschaften” zugeordnet werden. Ihr Gegenstandsbereich ist die Analyse kultureller “Hintergründe” und ihrer Veränderung, wie des Welt – Bildes, des “Wirtschaftsstils”,[6] von “Mentalitäten” (der französischen “Neuen Geschichtswissenschaften” in der Tradition der Annales – Schule), von Symbolischen Formen (Ernst Cassirer) oder von “Epistemen” als Ergebnisse gesellschaftlicher Diskurse (Michael Foucault).

Kulturwissenschaftliche Ansätze gehen in der Regel transdisziplinär vor. Sie betonen die Andersartigkeit der Menschen vergangener Jahrhunderte, im Gegensatz und im Kontrast zum impliziten kulturellen Rahmen der Gegenwart. Historische kulturwissenschaftliche Analysen versuchen die “Selbstverständlichkeiten“ vergangener Epochen zu erkunden (Foucault spricht von einer “archäologischen Ebene des Wissens”) und “verstehend” nachzuvollziehen. Für frühere Epochen wird dabei die Existenz anderer Grund – Kategorien für das allgemeine Denken und Handeln behauptet als die, die uns heute gängig sind. Ein “Verständnis” des wissenschaftlichen Handelns und Denkens (einschließlich ihrer Reflexion durch Wirtschaftstheorien) vergangener historischer Epochen müsse demnach auch unter Berücksichtigung des jeweiligen historischen “Hintergrunds” jener Denk – Kategorien erfolgen, die zu dieser Zeit verfügbar waren und als Selbstverständlichkeiten galten.

Ein Beispiel für eine solche Kategorie, die auch für das wissenschaftliche Denken relevant war, ist die Kategorie des Fegefeuers vom 12. bis zum 16. Jahrhundert.[7] Die Bedeutung dieses Konzeptes für ökonomisches Handeln ist bekannt. So werden z.B. im 13. Jahrhundert Ablässe und Gebete zu Handelswaren, man kann sie kaufen. Mit der Merkantilisierung des Fegefeuers entsteht eine „Buchführung des Jenseits“ mit einem eigenen geistlich-finanziellen Kreislauf.[8] Viele reiche Kaufleute vermachen große Schenkungen an die Armen oder an die Kirche, um der Hölle zu entgehen und die Dauer des Fegefeuers zu verkürzen.  Für die Untersuchung dieser Epoche ist es nicht wichtig, daß das Konzept des Fegefeuers nach unserem Verständnis „falsch“ ist und sich auf eine Wirklichkeit bezieht, der wir keine Existenz zuordnen. Für die Menschen damals war das Fegefeuer eine Realität. Sie haben kollektiv daran geglaubt und dieser “Realität” auch in ihrem wirtschaftlichen Handeln Ausdruck gegeben. Ein Verständnis mancher ökonomischer Aktivitäten sowie mancher ökonomischer Theorien aus dieser Zeit ist ohne ein Verständnis des Konzepts des Fegefeuers vermutlich nicht möglich.

Eine historische Analyse von Grundkategorien legt es nahe, auch Grundkategorien der Gegenwart als historisch gewachsen zu verstehen und ihren historischen Werdegang im Detail zu studieren. In dieser Arbeit werde ich einige kulturwissenschaftliche Befunde zusammenfassen, die sich auf Grundkategorien beziehen, die in vielen zeitgenössischen ökonomischen Analysen als implizite “Selbstverständlichkeiten” erscheinen. Es handelt sich um die Kategorien des Raumes, der Zeit, des Objektes und des Ichs. Die meisten Ökonomen halten es stillschweigend mit Kant, der Raum und Zeit als nicht hinterfragbare a priori-Denkformen begreift und dem Konzept des Ichs (das tranzendentale Ich) und des Objekts (das Ding an sich) einen zwar nicht erkennbaren, aber dennoch realen Status zuschreibt. Im Hinblick auf die hier referierten Forschungsergebnisse kann dieser Anspruch prinzipiell bestritten werden.

Das Ziel meiner Ausführungen ist eine historische Relativierung von Grundpositionen im ökonomischen Denken, die – so hoffe ich – den Leser oder die Leserin zum Nachdenken anregt. Das Material, das hier präsentiert wird, stammt vor allem aus der französischen Mentalitätsforschung (Georges Duby, Jean Favier, Jacques Le Goff, Emmanuel Le Roy Ladurie, Georges Minois), russischen (Aaron Gurjewitsch) und deutschen Autoren (Gertrud Bodmann, Richard von Dülmen, Gerhard Dorn–van Rossum, Peter Gendolla, Hans–Willy Hohn, Werner Sulzgruber, Rudolf Wendorff), die auf ähnlichen Ansätzen beruhen; der Diskursanalyse von Michael Foucault und anderen zeichentheoretischen Ansätzen (Thomas Kleinspehn, Karl Menninger, Brian Rotman) sowie auf geschichtlichen Darstellungen der Symbolsprachen der Kunst (Martin Burckhardt, Ernst Gombrich, Erwin Panofski).

Trotz der Heterogenität dieser Ansätze, auch in wissenschaftstheoretischer und methodischer Hinsicht, stimmen sie in vielen Ergebnissen erstaunlich überein. Im folgenden gehe ich nicht auf die Unterschiede und ihre Hintergründe ein, sondern präsentiere einige Ergebnisse, über die nach meinem Wissenstand ein gewisses Maß an Übereinstimmung herrscht. Gleichzeitig werden an einigen Stellen Bezüge und Querverweise zur Geschichte der ökonomischen Theorie unternommen. Hier geht es um Andeutungen, wie bestimmte Theorien im Hinblick auf die hier dargestellten Ergebnisse neu interpretiert werden könnten (Eine detaillierte Ausarbeitung dieser Andeutungen bleibt späteren Arbeiten vorbehalten). Die Zeitspanne, die dabei betrachtet wird, reicht vom hohen Mittelalter bis zur Wissenschaftlichen Revolution, – eine Periode, die über die viele Veröffentlichungen und zusammenfassende Darstellungen verfügbar sind. Am Ende meines Papers erlaube ich mir eine Spekulation für die Zukunft. Hier wird kurz die Frage aufgeworfen, ob es Indizien dafür gibt, daß sich die Geschichte der hier besprochenen Grundkategorien einem Ende zuneigt und was dies für die Zukunft bedeuten könnte.

2. Die Geschichte des Objektes

Ich beginne meine summarische Darstellung mit der Kategorie des Objektes. Es soll die These erörtert werden, daß die “Selbstverständlichkeit” der “Existenz” von Objekten eine kulturelle Konstruktion ist, die ihre Geschichte hat. Dazu ist es notwendig, bis zum hohen Mittelalter zurückzugehen und den Objekt – Begriff dieser Zeit dem uns geläufigen (neuzeitlichen) Objekt – Begriff gegenüberzustellen.

Diesen Text schreibe ich mit einer Füllfeder. Was ist ein Objekt, z.B. eine Füllfeder ? Wenn wir ein Objekt beschreiben, dann sprechen wir in der Regel von seinen Funktionen („eine Füllfeder dient zum Schreiben“) und seinen materiellen Eigenschaften („sie ist so lang, so schwer und besteht aus diesen Materialien“), d.h. wir wenden einen naturwissenschaftlichen Ansatz an, der in der Regel in eine strenge naturwissenschaftliche Definition (z.B. die Beschreibung von Molekularstrukturen) überführt werden könnte.

Im frühen und im hohen Mittelalter hätte eine solche Definition niemand verstanden, weder ein Gelehrter noch ein „einfacher“ Mensch, – und dies trotz der großen Unterschiede, die zwischen der Welt der Gelehrten und der sogenannten einfachen Menschen bestand. “Dinge” werden nämlich im Mittelalter[9] fundamental anders begriffen. Dies kann sowohl aus einer Analyse der wichtigsten philosophischen Strömungen sowie von Alltags– Diskussionen und –Handlungen gefolgert werden. [10]

Mittelalterliche “Dinge” besitzen eine reichhaltigere oder umfassendere Natur als neuzeitliche Dinge. Im Dinge – Konzept des Mittelalters sind zusätzliche Aspekte oder Dimensionen enthalten, die uns heute fremdartig erscheinen und in unserem Dinge – Konzept keinen Platz mehr finden.

Mittelalterliche “Dinge” besitzen u.a. folgende Aspekte:

  1. Dinge als „natura communis“ existieren nicht als Einzel-Dinge, sondern sind Gesamtheiten (Universalien) untergeordnet.
  2. Dinge sind nicht unabhängig von Menschen (Anthropozentrik) und
  3. nicht auf Meßbares reduzierbar.
  4. Dinge sind nicht nur Materie. Sie besitzen auch spirituell – geistige Aspekte, wie innere Zwecke (Entelechie),
  5. innere Werte und
  6. Symbole.

Alle diese Aspekte galten als real. Sie weisen, so dachte man, sowohl in der Philosophie als auch im Alltag, auf das eigentliche “Wesen” von Dingen hin.

Insbesondere der Symbolaspekt begründet einen deutlichen Gegensatz zum modernen Objektbegriff. Im mittelalterlichen Denken werden Dinge in ein Netz symbolischer Bezüge gestellt. Kein Ding existiert isoliert für sich, es weist immer auch auf andere Dinge hin. Jedes Ding besitzt, so glaubte man, nicht nur eine materielle, sondern auch eine symbolisch-geistige Seite. Die Welt war voller symbolischer Bezüge, ein riesiges Netzwerk symbolhafter Zusammenhänge, von Korrespondenzen, – ein endloses Band von Anziehung und Abstoßung, von Sympathie und Antipathie, von Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten. Eine Walnuß ist einem Hirn ähnlich: Walnüsse zu essen kann Erkrankungen des Gehirns heilen. Die sieben Öffnungen im Gesicht des Menschen entsprechen den sieben Planeten im Himmel, usw. Alles ist mit allem verwandt, alles steht in symbolischer Beziehung. Dinge sind in dieser Denkweise nicht statisch, sie besitzen dynamisch-kinetische Aspekte. Die Identität von Dingen entsteht aus ihrem dynamischen Wechselspiel mit anderen Dingen, z.B. der Menschen mit der Konstellation der Sterne. In den Dingen gibt es verborgenen Seiten, denen ein objektiver Status zugeschrieben wird.  Naturerkenntnis ist ein interpretierendes Nachvollziehen des geheimen Sinns der Dinge (Hermeneutik des Mittelalters). In sichtbaren Zeichen kann der unsichtbare Sinn, die Werte, die Zwecke, die Symbole, die Analogien erfaßt werden. Dazu ist es notwendig, auf die Zeichen der Natur zu achten, im „Buch der Natur“ zu lesen (legere in libro naturae). Das Wissen um die Natur bedarf einer Entzifferung der Zeichen der Natur (Signaturenlehre). „Den Sinn zu suchen, heißt an den Tag zu bringen, was sich ähnelt. Das Gesetz der  Zeichen zu suchen, heißt die Dinge zu entdecken, die ähnlich sind.“[11]

Wenn Dinge werthaft, zweckhaft und symbolhaft konzipiert sind, dann werden im Umgang mit Dingen wert-, zweck- und symbolhafte Handlungen gesetzt. Ein nüchterner manipulativer Umgang mit Dingen, wie es der Neuzeit zukommt, ist hier im – kulturellen Durchschnitt – denkunmöglich. Verhaltensweisen, die später dem Bereich der Wirtschaft zugeordnet werden, müssen in diesem Denksystem unmittelbar moralisch interpretiert werden, weil sie in einem moralischen Dinge – Universum geschehen. Aus dem Dinge – Konzept folgt zwingend das Konzept einer moralischen Ökonomie, das bei allen mittelalterlichen Autoren, die sich zu Wirtschaftsfragen äußern, nachgewiesen werden kann. Mittelalterliche Autoren diskutieren wirtschaftliche Fragen immer im Rahmen eines theologischen Systems, Wirtschaften wird explizit moralischen Regeln unterstellt.

Wirtschaftliche Handlungen werden stets anhand ihrer moralischen Dimension diskutiert: In der scholastischen Wirtschaftstheorie galt die Barmherzigkeit (misericordia) als die ökonomische Tugend, die Selbstsucht (avaritia) als die ökonomische Sünde.[12] In der Wirtschaftslehre von Thomas von Aquin (um 1225 – 1274), der unbestrittene Höhepunkt der Scholastik, finden wir eine Vielzahl von Prinzipien, Geboten und Verboten, die Wirtschaften dem göttlichen Heilsplan unterordnet. Wirtschaftliches Handeln ist nach Thomas von Aquin ausdrücklich einer theologischen Ethik zu unterwerfen. Dieser Rahmen gilt für alle Fragestellungen, die für moderne Ökonomen von Interesse sind. Preise – um ein Beispiel zu nennen – werden grundsätzlich als moralische Preise konzipiert. Der “gerechte Preis” eines Dings (iustum pretium) gilt als normativer Leitfaden, an dem sich aktuelle Preise zu orientieren haben. Er bezieht sich nicht, wie in der Neuzeit, auf ein einzelnes Ding, sondern (so argumentiert Thomas) auf die Klasse der Dinge (die Genera, die Universalien), der ein einzelnes Ding zuzuordnen ist. Jedes Ding besitzt wesensgemäß einen inneren Wert, eine innere Güte (bonitas intrinseca). Er bestimmt sich aus dem Wert seiner Klasse, welcher wiederum aus seiner Reihenfolge in einer gottgegebenen Hierarchie der Dinge abgeleitet wird. Ein Aspekt dieser Hierarchie bezieht sich auf den Schöpfungsplan, wie er im ersten Kapitel der Genesis beschrieben ist: Dinge, die Gott zuerst erschaffen hat, sind weniger wert als Dinge, die Gott später erschaffen hat. (Der Mensch am letzten Schöpfungstag ist die Krönung der Schöpfung.)[13]

Der gerechte Preis im Tausch ergibt sich nach der scholastischen Theorie aus dem Prinzip der kommutativen Gerechtigkeit: wenn Güter getauscht werden soll zwischen ihren intrinsischen Werten Äquivalenz herrschen (equalitas rei ad rem). Preise sind damit Wiederspiegelungen der inneren Werte, die in den Dingen wesensgemäß enthalten sind.[14] Dieses Preis – Konzept bezieht sich auf zeitbeständige Qualitäten in den Gütern. Preiserhöhungen aus anlaß einer Mangelsituation galten als unethisch und im Widerspruch zur intendierten Gerechtigkeit im Tausch.

Die scholastischen Wirtschaftstheoretiker leben in einem qualitativen Werte – Kosmos, dem jede Art von Wirtschaft und jedes wirtschaftstheoretische Problem zugeordnet wird. Eine reine qualitative Erörterung wirtschaftlicher Aspekte, wie sie später im Gefolge der Res extensa von Descartes möglich wird, hat in dieser Denk–Welt wenig Bedeutung. In Übereinstimmung damit wenden die scholastischen Wirtschaftstheoretiker wenig Anstrengung darauf, ihr Konzept gerechter Preise quantitativ zu operationalisieren. Im Hinblick auf die konkrete Preisgestaltung wird in der Regel kasuistisch argumentiert (und damit ein breiter Spielraum für Interpretationen aus moderner Sicht eröffnet).[15] Der gerechte Preis sei, so argumentiert Thomas, nicht mit mathematischer Genauigkeit zu bestimmen, sondern hängt auch von Wertschätzungen von Personen ab, die den eigentlichen Wesenskern von Dingen nur unzureichend kennen.[16]

Eine moderne quantitative  Wirtschaftstheorie kann sich im Mittelalter auch deshalb nicht entfalten, weil im mittelalterlichen Denken Zahlen eine andere Bedeutung zukam, als dies uns heute selbstverständlich geworden ist. Mittelalterliche Zahlen folgen dem antiken Konzept einer Zahl als arithmos. In diesem Konzept steht eine Zahl immer für etwas Reales in der Außenwelt, Zahl und Ding sind unmittelbar verbunden.[17] Zahlen repräsentieren Dinge, sie sind keine inhaltsleeren Zeichen. Rechnen ist Zählen von Objekten,[18] ein Rechnen ohne Zählen ist denkunmöglich. Zahlen führen, so könnte man sagen, kein “Eigenleben”, unabhängig von Objekten der Außen – Welt. Dieser Befund ist für die Methodik einer Theorie von großer Bedeutung, weil er eine moderne Modelltheorie verunmöglicht. Sehen wir uns dazu das mittelalterliche Zahlensystem etwas genauer an.

Im europäischen Mittelalter schrieb man Zahlen mit römischen Symbolen.[19] Das römische Zahlschrift-System ist nur für die Darstellung eines beschränkten Zahlen-Raumes brauchbar und zum Rechnen kaum geeignet.[20] Es gibt keine historische Evidenz dafür, daß das römische Zahlensystem jemals zum Rechnen verwendet worden ist.[21] Die römischen Ziffern sind genaugenommen keine Rechen-Zeichen, sondern Abkürzungen, um Zahlen aufzuschreiben und festzuhalten.[22] Sie sind zahlendarstellende Zeichen, keine Rechen-Zeichen.

Im Mittelalter rechnete man neben anderen Methoden mit dem Rechenbrett (Abakus), – eine Tafel, die in Streifen für Einer, Zehner, Hunderter, Tausender, … unterteilt war.[23]  Eine Zahl wird durch Steine, Münzen, Kugeln, … festgehalten, ab dem 13. Jahrhundert auch durch „Rechenpfenninge“, – das sind „Münzen“ ohne Geldwert.  Das Rechnen mit dem Abakus war eine Kunst, die fast niemand beherrschte.  Elementare arithmetische Rechenoperationen konnten nur von Spezialisten ausgeführt werden. „Eine Multiplikation, die heute ein durchschnittliches Kind in wenigen Minuten ausführt, konnte für diese Spezialisten mehrere Stunden äußerst schwierige Arbeit bedeuten. … Ein Händler, der die Höhe seiner monatlichen Einnahmen und Ausgaben wissen wollte, mußte dafür die Dienste einer dieser Rechenspezialisten in Anspruch nehmen.“[24]

Im mittelalterlichen Konzept von Zahlen als Repräsentanten von Dingen (wie den Steinen auf einem Abakus)  konnte es keine Null geben. Null repräsentiert das „Nichts“, das Nicht-Vorhandensein von Dingen, wie von Steinen. Im römischen Zahlensystem gibt es kein Symbol, das unserer Null entspricht. „Zahl ist … Anzahl, und nur für eine Anzahl existiert ein Zeichen.“[25] Die Null ist eine Erfindung der Inder (um 500 n.Chr.),[26]  sie kam zu uns über den Weg der Araber (das „arabische“ Zahlensystem).[27] Die Inder erfanden die reine Stellenschrift: die Stelle im Ganzen einer Zahl bestimmt ihren Wert als Einer, Zehner, Hunderter, … ; sie benötigt ein Zeichen für „Nichts“, das etwa 302 von 32 unterscheidet. [28] Europa lernte die Null durch arabische Kaufleute kennen, vermutlich zuerst in Spanien.[29] Das arabische Konzept konnte im frühen und hohen Mittelalter niemals Fuß fassen, weil es das mittelalterliche Denken sprengt. Die Menschen damals waren schlichtweg nicht in der Lage, die komplexe Bedeutung der Null zu erfassen.[30]

Die ersten Europäer, die tatsächlich mit der Null rechnen konnten, waren Kreuzritter, die dieses Verfahren von den Arabern gleichsam vor den  Toren Jerusalems erlernt haben.[31] Im 12. und 13. Jahrhundert wurden die Werke der griechischen und arabischen Mathematiker ins Lateinische übersetzt. Diese Übersetzungen waren allerdings nur den Gelehrten zugänglich und drangen nicht ins Volk vor. Die erste soziale Schicht, die sich das moderne Zahlensystem aneignet, sind die italienischen Kaufleute des 13. und 14. Jahrhunderts.[32] Sie erfanden u.a. die doppelte Buchhaltung, ein Grundkonzept für ein modernes Verständnis wirtschaftlicher Vorgänge. Es benötigt das arabische Zahlenkonzept mit der Null. Der moderne Kapitalismus basiert damit auch auf einer Denkform, in der Zahlen in einer modernen Bedeutung “verstanden” werden.

Ein Zahlensystem mit einer Null ist nämlich abstrakter und komplexer als ein System ohne Null. Null ist ein Zeichen mit unterschiedlichen Bedeutungen.[33] Es symbolisiert etwas Abwesendes, wie das Nichtvorhandensein von Steinen in der Zeile eines Abakus, ein “Nichts”. Im Zahlensystem verweist das mathematische Zeichen Null auf die Abwesenheit anderer Zeichen, die Zeichen 1 bis 9 (die für eine bestimmte Anzahl von Dingen stehen können). Mit der Null kommt eine neue und zusätzliche Bedeutungsebene in das Zahlensystem hinein. Null bezeichnet eine konkrete Zahl (mit der man rechnen kann) und zugleich eine externe Position außerhalb aller anderen Positionen: den Beginn des Zählens. Die Null hat einen Doppelaspekt. Sie befindet sich als Zeichen “innerhalb” des Zahlensystems und zugleich “außerhalb”, weil es das gesamte Zahlensystem organisiert und in bedeutungsvoller Weise auf es hinweist.

Die norditalienischen Kaufleute sind die erste soziale Schicht im abendländischen Europa, die sich diese Denk – Form kollektiv aneignet. Gemeinsam mit den übrigen in diesem Paper besprochenen Grundkategorien (Raum, Zeit, Ich) praktizieren sie eine Denk- und Handlungsweise, die anderen Zeitgenossen schlichtweg unverständlich ist und ihnen ungeheure Vorteile bietet. (Sie besitzen im 13. und 14. Jahrhundert zeitweise fast ein Monopol für Bankgeschäfte und den Fernhandel). In diesem Denken entstehen die ersten Formen moderner Banken- und Versicherungsgeschäfte. Ein Aspekt dieser Denk– Kategorie ist die Entwicklung von nicht–stofflichem “Zeichen–Geld” (wie den ersten Wechseln auf Fremdwährungen), deren ökonomischer Wert nichts mit ihrem stofflichen Wert (wie bei Gold- und Silbermünzen) zu tun hat (– eine Denkweise, die Parallelen zum Denken von “Nichts” bei der Null aufweist).[34]

Das übrige Europa kann sich diese Denkformen erst viel später aneignen. In Deutschland z.B. wurden die arabischen Ziffern erst im 15. Jahrhundert bekannt , und zwar zuerst in den Handels- und Schreibstuben der großen deutschen Städte.[35] Ab 1500 erscheinen dann – nach der Erfindung des Buchdrucks – die „Rechenbücher“ (z.B. von Adam Riese), die für eine Verbreitung der neuen Verfahren in der Allgemeinheit sorgen. Die Rechenbücher des 16. Jahrhunderts geben sich große Mühe, die „Verglychung tüdtscher vnd ciferzal“ den einfachen Leuten klarzumachen.[36]  Die Verwendung des neuen Ziffernsystems setzt sich dennoch nur langsam durch. Noch 1580 gesteht der Franzose Montaigne, einer der gebildetsten Männer seiner Zeit und Besitzer einer umfangreichen Bibliothek, ohne Scham ein, daß er nicht rechnen kann.[37]

Der Übergang vom mittelalterlichen zum neuzeitlichen Zahlen – Konzept markiert einen der großen Umbrüche im Denken der Menschen. In der neuzeitlichen Geschichte der Mathematik werden Zahlen immer abstrakter und entfernen sich immer mehr von realen Gegenstücken in der Außen – Welt,[38] – bis die Mathematik schließlich als Theorie logischer Leerformen, losgelöst von jeder inhaltlichen Interpretation, verstanden werden kann. Erst mit dem Konzept von “leeren” Zahlen (“freien” Zahl – Zeichen) wird sowohl die experimentelle Methode als auch ein rationalistischer Sytem – Gedanke möglich. Der Nachweis der Isomorphie von Geometrie und Arithmetik (Descartes‘ großartige Entdeckung), die “Erfindung” des “Cartesianischen” Koordinatensystems und der Welt als meßbarer Raum – Welt (res extensa) sind ohne diesem Zahlen – Konzept nicht möglich. Die moderne Modell – Ökonomie und die modernen quantitativen Verfahren in der Ökonomie basieren damit auf “Denk – Formen”, die nicht anthropologisch gegeben, sondern sich in einem jahrhundertelangen Prozeß langsam und schrittweise herausgebildet haben.

3. Die Geschichte des Raumes

Ein ähnlicher Prozeß kann an der Entwicklung des Raum–Konzeptes nachgewiesen werden. Wie die Konzepte von Objekt, Zahl und Geld so ist auch das Konzept eines dreidimensionalen physikalischen Raumes ein Ergebnis eines langen Umwandlungsprozesses von Denk–Formen. Die Idee eines allgemeinen Meß–Raumes entsteht erst im 17. Jahrhundert (z.B. Descartes‘ res extensa), – reformuliert von Barrow und Newton als absoluter und leerer Raum. Diese “Selbstverständlichkeiten” unseres Denkens waren im Mittelalter kollektiv nicht verfügbar. Raum war Aristoteles folgend „angefüllter Raum“: der Raum eines Körpers ist die innerste Grenze des ihn umfassenden Körpers (Der Ort des Weines ist die Innenseite des Fasses.) Raum war nicht homogen und isotrop. Es gab z.B. keinen Maßstab, der von der Erde bis zu den Sternen reicht. Den Kosmos dachte man sich als System von „Sphären“: kugelförmige Bereiche, die sich wie Zwiebeln um die Erde legten, z.B. die „Sphäre“ des Mondes, der Sonne, des Jupiters.

In einem Sphären-Konzept vom All sind räumliche Distanzen belanglos. Jede Sphäre ist von jeder anderen Sphäre qualitativ unterschieden. Es gibt keine Meß-Dimension, die für alle Sphären Bedeutung hat. Die meßbaren Aspekte der Welt waren keine globalen, allgemeinen, wesenhaften Aspekte der Welt. Sie gelten nur für begrenzte  Ausschnitte der Welt, für weniger wichtige Aspekte, aber nicht für die Welt insgesamt. Die „Raumlosigkeit“ korrespondiert auch mit der Symbolhaftigkeit der Welt, symbolisches Denken ist „raumloses“ Denken. Räumliche Distanzen (in unserer Denkweise) existieren nicht, wenn sie durch symbolhafte Bezüge ”überbrückt” werden. Sympathie und Antipathie wirkt augenblicklich, ohne vermittelte Kraft dazwischen und ohne Zeit und ohne einen Raum, den es zu überbrücken gilt.[39]

Viele Befunde stützen die These von der „Raumlosigkeit“ des Mittelalters. Bis in das 13. Jahrhundert werden Landkarten als spirituelle Landkarten gezeichnet. Geographische Kenntnisse mischen sich mit religiösen Inhalten. Tatsächliche geographische Kenntnisse z.B. der „vier Paradiesflüsse“ – Tigris, Euphrat, Ganges und Nil – wurden uminterpretiert, wenn sie im Widerspruch zur christlichen Geographie gerieten. Man argumentierte, die tatsächlichen Quellen seien woanders, sie verliefen stellenweise unterirdisch, usw.[40]

Ein anderer Befund ist die Malkunst der gesamten Epoche. Im gesamten Mittelalter findet sich kein einziges Bild, das räumlich „richtig“ gemalt worden ist. Man kann zeigen, wie sich vom zweiten bis zum sechsten Jahrhundert Schritt für Schritt die antike Kunst der Perspektive auflöst und einer „raumlosen“ Darstellung Platz macht.[41] Bis zum Ende des 13. Jahrhundert ist jedes Bild (ohne eine einzige Ausnahme !) „falsch“ gemalt,  auf keinem Bild wird der Raum „richtig“, d.h. nach perspektivischen Regeln widergegeben. Die Figuren werden in dieser Epoche nicht eindeutig und scharf vom Raum abgegrenzt, Figuren und Raum verfließen ineinander.[42] In keinem Bild des Mittelalters ist ein durchgehender dreidimensionaler Raum erkennbar. In vielen Bildern hat jeder Gegenstand, jedes Bildelement sein eigenes System perspektivischer Darstellung: „Jedes Element ist eine in sich geschlossene räumliche Einheit, aber die Einheit des Gesamtraumes ist aufgegeben worden.“[43]

Dies Wurzeln des modernen Raumgedankens werden von vielen Kunsthistorikern dem 12. Jahrhundert zugeordnet. Ein Beleg sind die gotischen Kathedralen ab der Mitte dieses Jahrhunderts. Hier manifestierte sich ein neues Raumverständnis, im Unterschied und in Abgrenzung zu der Raum-Idee romanischer Kirchen.[44] Gotische Kirchen sind von ihrem Bauprinzip bekanntlich Netzwerk-Konstruktionen, ähnlich wie wir heute Glashäuser bauen: die Statik ruht auf Rippen oder Gurten, die in schmalen Pfeilern gebündelt und diagonal über das Gewölbe geführt werden. Am höchsten Punkt des Gewölbes kreuzen sich je zwei Rippen, Kreuzrippen genannt. Der Zwischenraum eines Kirchenschiffes wird dabei nicht wie in der Romanik durch halbkreisförmige Bögen, sondern durch Spitzbögen, zwei aneinandergelehnte Kreissegmente, überbrückt. Ein Architekt, der eine gotische Kirche entwirft, muß – so das Argument – den Kirchen-Raum als System-Ganzes, als rationale Einheit denken.[45] Er benötigt dazu die Vorstellung von einem dreidimensionalen Ganzen, von einem einheitlichen Raum, der von Kräftelinien durchzogen ist. Die Druckverteilung des Gewichtes der Decke muß räumlich exakt geortet werden, der Druck muß exakt lokalisiert, auf exakte Kraft-Orte und Kraft-Punkte gelenkt werden. Ein Architekt einer gotischen Kirche muß ein Modell von Kraft-Linien im Raum entwerfen, wo jede Linie mit jeder anderen in Beziehung steht.

Der Gedanke einer geometrischen Konstruktion des Raumes findet sich in der Malerei ab dem 14. Jahrhundert. Den Beginn macht Giotti di Bondone. Er gilt als der große Erneuerer der abendländischen Malkunst, weil er Bilder erstmals räumlich zeichnet.[46] Seit Giotto gibt es einen einheitlichen Raum für das gesamte Bild. Der Boden wird als horizontale Fläche gemalt, die sich in die Tiefe erstreckt. Personen stehen auf den Boden im Bild und nicht wie in mittelalterlichen Bildern im „Himmel“ oder auf der Bildleiste am Rande des Bildes. Jede Person nimmt einen eindeutigen räumlichen Ort ein, Figuren hebt sich räumlich vom Hintergrund ab. Die Figuren lösen sich aus der flächenhaften Verbindungund treten für sich aus dem Raum hervor. Giotto malt neuzeitliche Individuen. Jede Person besitzt ihre individuellen Gesichtszüge und Giotto malt erstmals Portraits individueller Personen.

Vom 14. Jahrhundert aufwärts werden Bilder „realistisch“, d.h. als räumliche Bilder gemalt (ein Prozeß, der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sein Ende findet.) Im 15. Jahrhundert wird das Prinzip der Zentralperspektive entdeckt und im 16. Jahrhundert hat sich die Idee des Raumes als verbindliche Denkform in vielen Bereichen endgültig etabliert. Viele epochale Neuheiten der beginnenden Neuzeit gruppieren sich um die Raum-Idee: Kopernikus, Brahe, Kepler, Bruno und Galilei entdecken den Raum des Kosmos: die geschlossenen Sphären – Welt wandelt sich zum unendlichen Raum–Universum.[47] Bartholomäus, Diaz, Columbus und Vasco da Gama entdecken die geographische Raum–Welt. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts deutet William Harvey die anatomischen Fakten über den menschlichen Körper anhand des Raum–Konzeptes um und “entdeckt” den Blutkreislauf –, ein geschlossenes räumliches System.[48] Die darauf aufbauende Theorie des Geldkreislaufes in der Wirtschaft (z.B. bei den Physiokraten) basiert auf der Raum–Idee und transportiert den Raum–Gedanken in die Wirtschaft: die Wirtschaft erscheint als Raum–System.[49]

Die Idee vom Raum ist eine der gestaltenden Grund–Ideen in der Periode des (sogenannten) Merkantilismus. Viele merkantilistische Ansätze (im Vergleich und in Abgrenzung z.B. zu scholastischen Wirtschaftstheorien) sind Ausdruck der neuen Raum–Idee. Der neue Begriff “Politische Ökonomie” z.B. bezieht sich auf eine räumliche Gegebenheit, ein wirtschaftliches Raum–Gebiet. Er vereinigt das Politische mit der Ökonomie, – Bereiche, die im Mittelalter gedanklich getrennt waren (“Politik” war Sache der Hausväter in der “Gemeinde”, das Ökonomische bezog sich auf das Haus, den Oikos). Montchretien spricht im Traité de l‘economie politique (1615) von der Mesnagerie publique und ist darüber erstaunt, daß ein solches Konzept in der Antike nicht existiert[50]. (Er begreift den Unterschied seines Raum-Konzeptes zum antiken Raum-Konzept nicht).

In diesem Prozeß und in Zusammenhang damit ist die Geschichte der Entstehung des neuzeitlichen Staates von besonderer Bedeutung. Der neuzeitliche Staat ist ein Raum-Staat, ein räumlich definierter Territorialstaat. Das neuzeitliche Staats – Konzept beruht auf dem Raum-Konzept des 16. und 17. Jahrhunderts, das im Mittelalter unbekannt war. Der moderne Territorialstaat definiert sein Herrschaftsgebiet als Raumgebiet mit exakten Raumgrenzen.[51] Im Mittelalter gab es keine Territorialstaaten in unserem Sinn. Staaten wurden durch Zentren definiert, deren Herrschaftsgebiet nicht exakt räumlich lokalisiert war. Die Grenzen waren durchlässig und unklar, Souveränitäten gingen kaum wahrnehmbar ineinander über. Mittelalterliche politische Landschaften sehen oft wie Patchwork-Bilder aus, viele Herrschaftsbereiche überlagern sich. Manche Autoritäten üben gleichzeitig Herrschaft aus, die Zuständigkeiten sind oft nicht eindeutig geklärt. Es gibt viele lokale rechtliche Teilsysteme, die sich stark voneinander unterscheiden. Sie sind relativ eigenständig und wenig in umfassende politische und gesellschaftliche Einheiten integriert. In vielen mittelalterlichen Dörfern gibt es gleichzeitig mehrere Lehensherren. Ein mittelalterliches Dorf ist kein politisch-räumliches Gebilde im neuzeitlichen Sinne mit einheitlichen Institutionen, Rechtsordnungen und Sanktions-Systemen.

Unter der Herrschaft des modernen Konzepts von Raum wird der politische „Raum“ in einem jahrhundertlangen Prozeß durch eine politische Raum-Welt ersetzt. Die Vielzahl lokaler und begrenzter Rechts- und Herrschaftssysteme wird nach und nach durch ein einheitliches Rechts- und Herrschaftssystem verdrängt. Die vielen lokalen Macht-Inhaber werden entmündigt, die Macht geht auf eine übergeordnete Instanz, den Territorial-Staat über. Seine Erscheinungsform ist der absolutistische Staat. An seiner Spitze steht ein König oder ein Fürst. Er übt direkt Herrschaft über seine Untertanen aus. Der Herrschaftsanspruch des absolutistischen Souveräns setzt sich in einem langen Kampf gegen die feudalen ständischen Einzelinteressen durch. „Dieses Bild des ständigen Kampfes mit wechselnden Koalitionen und Stärkeverhältnissen ist zwar in den einzelnen Ländern durchaus unterschiedlich, der Ausgang dieser Kämpfe aber immer der gleiche. In allen größeren Territorien des europäischen Kontinents, aber auch in England, sammelt sich die Macht in der Hand des Fürsten, dem die Stände nicht gewachsen sind. Die ‚Autarkie der vielen‘ wird Schritt für Schritt ersetzt: in Frankreich, England, Spanien, Schweden und den habsburgischen Ländern durch die Königsmacht, in Italien und Deutschland durch kleine Territorialherren, Duodezfürsten und Oligarchien der Stadtstaaten.“[52]

In diesem Prozeß ändert sich die abendländische Gesellschaftsstruktur zur Gänze. Es gewinnt nicht nur ein bestimmter Herrscher an Macht, sondern auch die gesellschaftliche Institution des Herrschers wird neu definiert. Die Homogenisierungs-Idee des Raumes läßt eine neue Art von Macht entstehen, die keinen Nebenbuhler duldet. Die neuen Machtzentren sind Fürstenhöfe. Von hier wird versucht, den neuen Herrschafts-Raum einheitlichen Regelungen zu unterwerfen. Die Entstehung und Entwicklung des modernen Staates ist identisch mit der Erlangung und Behauptung des Gewaltmonopols, mit der Zentralisation der finanziellen Mittel und der Administration sowie mit der Konzentration der militärischen Macht in der Hand des Fürsten. Das Homogenisierungsprojekt des absolutistischen Staates kann im Detail in vielen Länder nachvollzogen werden. Das Ziel ist eine einheitliche Rechtsordnung, ein einheitliches Steuersystem, ein einheitliches Geldsystem, ein einheitliches Ausbildungssystem, ein einheitliches Meßsystem, usw. Der Staat wird nach und nach zum Raum in einem geographischen und einem politischen und sozialen Sinn. Er bekommt klare Grenzen nach außen und formt in seinem Inneren einen einheitlichen politischen Raum, gestaltet nach einheitlichen sozialen Koordinaten.

Ein Beispiel ist das umfangreiche Reformprogramm von Jean-Baptiste Colbert, ab 1661 Generalkontrolleur der französischen Finanzen unter Ludwig XIV. Colbert gelingt es, ein einheitliches Steuersystem zu etablieren (das die Einnahmen innerhalb weniger Jahre verdoppelt.) 1664 werden einheitliche Export- und Importzölle (mit Ausnahmen) eingeführt. Colbert vereinheitlicht und reglementiert Gewerbe und Industrie in Frankreich (z.B. die Textilindustrie). 1665 schlägt er vor, die zersplitterten Maß- und Gewichtssysteme zu vereinheitlichen und versucht (ohne viel Erfolg), die vielen lokalen Fluß- und Wegezölle aufzuheben. (Noch 1784 war auf der Saône auf einer Strecke von 600 Kilometer an 28 Stellen Flußzoll zu entrichten.) Colberts Homogenisierungsprojekt ist nur zum Teil erfolgreich. Sein “Testamentvollstrecker” ist, wie Eli Heckscher schreibt, mehr als ein Jahrhundert später die französische Revolution – ein radikaler Homogenisierungsschub: Abschaffung der Feudalrechte (1789), Beseitigung der alten Provinzen (die Grundlage der Zollzersplitterung) und der Binnenzölle (1790), Vereinheitlichung der Maße und Gewichte (das Pariser Urmeter) und die Aufhebung des Zunftsystems (1791)[53]

4.        Die Geschichte der Zeit

Neben dem Raum wurde auch die Zeit im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit allmählich homogenisiert, bis sie schließlich zur abstrakten linearen Zeit wurde, die uns heute selbstverständlich geworden ist. Die Geschichte der Zeit ist ein von den Geschichtswissenschaften intensiv erforschter Prozeß. Ich erlaube mir dazu eine längere Zusammenfassung.

Im Mittelalter gab es unterschiedliche Konzepte von Zeit. Die beiden wichtigsten waren das antike Konzept von kreisförmiger Zeit und das christliche Konzept einer linearen Heilszeit. Für den Alltag dürfte das Kreiskonzept am bedeutsamsten gewesen sein. Im Mittelalter waren die Menschen eng in biologische Rhythmen und in Rhythmen der Natur eingebunden.[54] Der Rhythmus der Sonne regulierte das Leben, vor allem am Lande. Die Menschen standen bei Sonnenaufgang auf und gingen bei Sonnenuntergang zu Bett. Im Sommer betrug der Schlaf oft nur drei bis vier Stunden, im Winter bis zu elf Stunden. Der „Tag“ war der Sonnen-Tag, die Zeit des Wach-Seins. Er zerfiel in zwölf Stunden, sechs Stunden von Sonnenaufgang bis zu Mittag und sechs Stunden von Mittag bis zu Sonnenuntergang. Das Ende der 6. Stunde war zu Mittag, beim höchsten Stand der Sonne. Eine Stunde war damit unterschiedlich lang, von 30 Minuten im Winter bis zu 90 Minuten im Sommer. (Dieses Konzept nannte man Temporalstunden).

Zeit war im Mittelalter ein kompliziertes Gebilde mit vielen zeitlichen und regionalen Besonderheiten. Unterschiedliche Zeit-Konzepte mischten und überlagerten sich. In gewisser Weise war die mittelalterliche Zeit komplexer und vielschichtiger als unsere lineare Zeit. Im Mittelalter gibt es nicht die eine allgemein verbindliche Zeit, sondern ein Gemenge unterschiedlicher Arten von Zeit. Von besonderer Bedeutung war auch die Vorstellung von „gerichteter Heilszeit“: [55] eine Abfolge von „Äonen“ von der Erschaffung der Welt, zum Sündenfall, zum Erscheinen Christi, seiner Auferstehung bis zum Jüngsten Gericht. Die gerichtete Zeit war auch die offizielle Zeit der Kirche. Die Kirche führte den Kalender und zählte die Jahre „nach Christus“. (Diese Idee entstand im 6. Jahrhundert. Jahreszählungen anno domini finden sich in Chroniken erst im 11. und 12. Jahrhundert. Die Zählung der Jahre vor Christi Geburt kam erst im 17. und 18. Jahrhundert auf.)[56]

Den „einfachen Gläubigen“ war im Mittelalter die aktuelle Jahreszahl anno domini unbekannt. Sie lebten in „profaner Zeit“ ohne Kenntnis der aktuellen „göttlichen Zeit“. Die Kirche achtete darauf, die zyklischen „profanen“ Zeiten mit vielen christlichen Bezügen zu versehen. Das Jahr wurde zu einem Zyklus von Feier- und Heiligentagen, zu einem periodischen Ablauf von Zeiten, die mit christlichen Mythen durchsetzt waren. Der Durchschnittsmensch des Mittelalters hatte kaum ein Bewußtsein der linear gemessenen Zeit. Er kannte weder das Jahr anno domini, noch sein aktuelles Lebensalter noch die aktuelle Tageszeit. Noch im 15. Jahrhundert wußten die Menschen im allgemeinen nicht, welches Jahr man nach der christlichen Zeitrechnung schrieb.[57] Selbst gebildete Menschen wußten nicht, wie alt sie waren.[58]

In der mittelalterlichen Vorstellung zerfiel Zeit ähnlich wie Raum in eine Vielzahl heterogener Bereiche. Zeit wurde nicht als Kontinuum von homogener Zeit begriffen. Zeit bestand aus einer Unzahl von Zeiten, die sich qualitativ unterschieden. Zeit war „segmentierte“ Zeit.[59] Sie bestand aus einzelnen Zeit-Spannen mit abrupten Wechseln und diskontinuierlichen Übergängen. Ein Beispiel ist der Begriff  „Tag“. „Tag“ bezeichnet im Mittelalter nur die Wach-Zeit, den „Licht-Tag“ und nicht die 24 Stunden von „Tag und Nacht“. „Tag“ ist nur dann, wenn die Sonne scheint. „Tag“ und Nacht sind qualitativ verschiedene Zeiten. Der „Tag“ ist eine heilige Zeit, die Zeit Gottes. Die Nacht ist eine unheilige Zeit, die Zeit des Teufels, der Gefahr und des Schreckens. Im Erleben der Menschen zerfallen „24 Stunden“ (so denken wir heute) in zwei getrennte Welten: in die Wach-Welt und in die Schlaf-Welt, ohne begriffliche Verbindung, ohne ein gemeinsames Ganzes.

Auch die helle Zeit des Licht-Tages zerfällt im mittelalterlichen Denken in getrennte Abschnitte, in qualitativ unterschiedliche Zeiten.[60]  Es gibt Zeiten der Gnade, Zeiten der Sünde, Zeiten der Erlösung. Für viele Tätigkeiten gibt es eine gute Zeit und eine schlechte Zeit. Aderlassen, Baden, Reisen oder Haareschneiden soll man nur zu bestimmten Zeiten tun. Mittwoch und Freitag sind Unglückstage, in denen alles zum Schlechten gerät. Der Montag eignet sich zum Säen und Pflanzen, der Dienstag zur Volks- und Gerichtsversammlung. Am Mittwoch soll man kein Holz fällen oder Brot backen. Der Donnerstag ist der Ruhe-, Fest-, Fron- und Fleisch-Tag. Donnerstag ist wichtig für Gegenzauber. Kinder, die an diesem Tag geboren werden, können Geister sehen. Freitag ist der Hexentag und der Tag des Grüns, man sollte Smaragde tragen. Sonntag ist der Glückstag. Hochzeiten und Taufen sollten am Sonntag stattfinden. Sonntags-Kinder sind Glücks-Kinder.[61]

Zeit ist im Mittelalter eine Abfolge verschiedener Zeiten, kein Kontinuum, kein unaufhörlich fließender Zeitstrom. Gurjewitsch beschreibt die Zeit-Vorstellungen in den Epen des 13. Jahrhunderts als unstetige, diskontinuierliche Zeit, „wie die Zeit auf einer Schachuhr.“[62] Es existiert nur die Zeit, die die Erzählung schildert. Zwischen den einzelnen Episoden gibt es keine Zeit. Wenn ein Dichter heute eine Erzählung an einem Zeitpunkt unterbricht und sie später fortführt, sind wir neugierig zu erfahren, was in der Zwischenzeit mit den Hauptpersonen passiert ist, und wie sich entwickelt haben. Offensichtlich „leben“ sie auch in der Zeit, die die Erzählung ausläßt. In den von Gurjewitsch besprochenen Epen hingegen entwickeln sich die Helden zwischen den Geschichten nicht weiter. Es gibt keinen Unterschied, keine Entwicklung. Sie „leben“ nur in den erzählten Episoden, außerhalb der Erzählung verharren sie gleichsam in einem nicht-existenten Zustand.

Das mittelalterliche Zeit-Konzept ist mit seinem Raum- und Ding-Konzept eng verbunden. Zeit nimmt im mittelalterlichen Denken Aspekte des Raumes und der Dinge an. Mittelalterliche Zeit ist symbolhafte Zeit, werthafte Zeit, intentionale Zeit. Jede Zeit hat ihre Symbolik, ihre Bewertung. Zeit ist göttliche Zeit, kein weltliches Ding und keine Handelsware. Das Zeit-Denken der Kaufleute gilt als anrüchig. Zinsen sind verpönt, weil man die göttliche Zeit nicht verkaufen darf.[63] Mit Geld Wucher zu treiben ist eine Sünde, die dem Welt-Bild direkt widerspricht. Zeit hat keinen Preis. Zeit ist nicht Geld. Zeit ist Leben, erlebte Zeit, erfahrene Zeit. Sie steht unmittelbar in Beziehung zu dem, der sie denkt. In geschichtlichen Darstellungen wird in den Kategorien der „Dauer von Herrschaft einer Person“ gedacht, nicht in Jahreszahlen unserer Rechnung. In der Kirchengeschichte des Eusebius werden die „Jahre“ seit der Erschaffung Adams angeführt, aber das Zählen dieser „Jahre“ ist immer an die Lebens-Zeit von Personen geknüpft. „Zeit ist (hier) nicht wie ein Ding an sich. Das erklärt zugleich, warum Zeit immer nur auf die erzählende Person, auf die je eigene Zeit zuläuft. „Zeit“ kann immer nur verflossene Zeit sein, denn sie wird nur wahrgenommen als Zeit von Menschen, die leben oder gelebt haben“.[64]

Zeit existiert im Mittelalter nicht außerhalb und neben den Menschen und ihrem Tun. „Die Zeit ist ein Parameter menschlichen Tuns: wo nichts passiert, da ist sozusagen auch keine Zeit, denn es ist unmöglich, sie wahrzunehmen.“[65] Zeit ohne Erlebnisse ist nicht-existente Zeit, undenkbare Zeit. Die „Zählung“ von Zeit ist mit dem „Er-Zählen“ von Geschichten verbunden.[66] Geschichte besteht aus Geschichten. Zeit-Vorstellungen und Zeit-Empfinden sind nicht notwendig an Zahlen gebunden. Geschichte ist gedeutete Geschichte, reich an symbolischen Bezügen. Werden Zahlen verwendet, dann haben sie oft eine andere Bedeutung, als wir dies gewohnt sind. Wenn im Alten Testament Adam 230 Lebensjahre, Seth 205 Jahre und Noe 600 Jahre zugeordnet werden, dann symbolisieren diese Zahlen die „gefüllte Zeit“ dieser Personen, nicht ihre „tatsächliche“ Dauer nach unserem Zeit-Konzept. Zahlenangaben dieser Art dienen nicht dazu, „Zeit“ zu messen, sondern kollektive Erinnerungen zu organisieren. Die Erinnerungen beziehen sich nicht auf eine leere Zeitspanne, auf eine Zeit-Dauer, denn die kann man nicht denken, sondern auf Geschichten, auf Ereignisse, auf „Personen-Zeit“, auf „Lebens-Zeit“.

Mittelalterliche Menschen leben ein „zeitloses“ Leben. Die kulturelle Aufmerksamkeit ist nicht auf den „Fluß der Zeit“ gerichtet. „In seinen Studien zur Geschichte des französischen Zeitbegriffs macht Roland Glasser darauf aufmerksam, daß an keiner Stelle im Rolandslied Bezug auf die Zeit genommen wird. Der Dichter dieses Epos war sich weder des Fallens der Blätter im Herbst bewußt noch des Hinscheidens der Generationen. Dies waren Phänomene, die seine Aufmerksamkeit nicht erregten. Die wesentliche Eigenschaft der Welt war ihre Vergänglichkeit gegenüber Gott und nicht der sichtbare Wandel, der sich unaufhörlich in der Welt vollzog.“[67] Die Menschen leben „auf einer Insel in der Zeit, einer Insel, in deren Gesichtskreis wie das Zukünftige auch das Vergangene nicht lag“.[68] Ereignisse, die eine gewisse Zeit-Dimension überschreiten, werden innerlich ohne Zeit-Bezug repräsentiert. Sie fallen gleichsam in einen Nebel von Zeitlosigkeit, in einen zeitlosen Raum. Man weiß zwar, daß das irgendwann „vorher“ geschehen ist, hat aber kein Wissen darüber, wie lange vorher das war. Je weiter zurück ein Ereignis war, desto unbestimmter wurde die Zeitangabe. Ereignisse, die mehr als zwanzig, dreißig Jahre zurückliegen, werden zeitlich nicht mehr differenziert.[69] Man kann sie zeitlich nicht mehr denken, man ordnet ihnen keinen exakten Zeitbezug mehr zu.

Jede Vorstellung von „Geschichte“ in der Bedeutung von langen Zeitperioden fehlt. „Das Bewußtsein der Gegenwart macht aus einem Vorgang, der sich durch Jahrhunderte durchzieht, eine Einheit … Geschichte wird „zeitlos“ erlebt.“[70] In Geschichten und Erzählungen werden Ereignisse aus verschiedenen Zeitperioden miteinander direkt in Beziehung gesetzt. Wieviel Zeit zwischen den Ereignissen verstrichen ist, hat keine Bedeutung. Die geschichtliche Datierung lange zurückliegender Ereignisse ist unwichtig, man kann sie nicht „denken“.[71] „Die Kreuzfahrer vermeinen Ende des 11. Jahrhunderts nicht die Nachfahren der Henker Christi, sondern diese Henker selbst zu bestrafen.“[72] Tausend Jahre werden in der „Zeitlosigkeit“ des Mittelalters so repräsentiert, als ob sie dreißig Jahre wären!

Die Wurzeln des neuzeitlichen Zeit-Empfindens liegen vermutlich in den frühchristlichen Mönchsorden.[73] Hier wurde der Tagesablauf zeitlich exakt gegliedert und Pünktlichkeit als neue Tugend etabliert. Vom 3. bis zum 6. Jahrhundert wurden in den Klöstern die Andachtszeiten von zunächst zwei auf sieben „kanonische Stunden“ erhöht, der Großteil des Tages war damit einer Zeit-Ordnung unterstellt. „Die Kirche ist jene Macht, die zuerst … für eine Messung der Zeit und eine zeitliche Ordnung eintrat.“[74] Zeit zu messen und nach Zeit zu leben galt als etwas Besonderes und Höheres, zu dem der ungebildete Mensch des Mittelalters keinen Zugang hatte.

Die Stunden wurden in den Klöstern mit Wasser-, Sonnen- oder Kerzenuhren „gemessen“ und ab dem 5. Jahrhundert durch Glockensignale übermittelt, immer im Konzept der Temporalstunden. Die eigentliche Entstehung der linearen Zeit über die Mauern der Klöster hinaus ist mit der Erfindung der mechanischen Räderuhr mit Gewicht und Hemmung eng verbunden. Sie ermöglichte es, lineare Zeit exakt zu messen.[75] Der Zeitpunkt dieser Erfindung liegt zwischen 1270 und 1300, Ort und Zeit sind unbekannt. Man weiß nicht, wer die mechanische Räderuhr erfunden hat und auch nicht, in welchem Land das geschehen ist. Die Erfindung der mechanischen Uhr ist ein geschichtliches Großereignis. Sie wurde von den Zeitgenossen als solches nicht erkannt und blieb gänzlich unbeachtet.[76] Nach heutigem Wissensstand gibt es kein einziges Dokument zur Erfindung selbst. Die mechanische Uhr betrat das Bewußtsein der Menschen nicht mit der Erfindung der Spindelhemmung, sondern mit der Erfindung des Schlagwerkes (um 1300).[77]

Die stundenschlagende Uhr war die große technische Sensation des 14. Jahrhunderts, sie wurde von den Zeitgenossen als eine aufregende Neuigkeit empfunden. Stundenschlagende Uhren waren oft große Turmuhren, manchmal kunstvoll mit Figuren geschmückt oder als komplizierte astronomische Kalender gestaltet. Die Turmuhren waren meist im Besitz und in der Verwaltung städtischer Organe. Sie schlugen die Zeit im Stundentakt und waren in der ganzen Stadt zu hören. (Im englischen Wort clock klingt noch die Stundenglocke nach.)

Den Beginn machten die italienischen Stadtstaaten. Ab der Mitte des 14. Jahrhunderts erfolgte ein Export in andere europäische Städte, zuerst an die großen Residenzen. In kurzer Zeit war der Stundenklang in vielen Städten zu hören. Einen regelrechten Boom gab es in den siebziger Jahren und um 1410 waren in fast allen größeren europäischen Städten öffentliche Uhren installiert, in manchen auch mehrere.

Im Zeitraum bis 1450 ist die Verbreitung der stundenschlagenden Uhren in fast 500 Städten Europas dokumentiert. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts waren in den großen Städten wie Paris, Rouen und Mailand mindestens vier bis sechs öffentliche Uhren in Betrieb, in den mittelgroßen wie Lüneburg schon vier und in kleineren wie Moulins im Bourbonnais mindestens schon zwei.[78] Von den Städten aus eroberten die öffentlichen Uhren nach und nach die Dörfer. Im 16. Jahrhundert hatten die meisten Dörfer in Mitteleuropa zumindest eine einfache Schlaguhr.

Glocken waren im Mittelalter Zeichen und Signalgeber von Herrschaft.[79] Glocken unterstanden einer kirchlichen oder städtischen Autorität. Die Befugnis kirchliche oder städtische Glocken zu läuten war genau geregelt. Ein Mißbrauch wurde hart bestraft. Stadttürme und Stadtglocken waren Ausdruck der Macht und Autonomie der Städte. Viele Aktivitäten in der Stadt wurden mit Glockensignalen geregelt. Die Stadtbewohner wurden mit regelmäßigen Glockensignalen aufgefordert, bestimmte Dinge zu tun oder zu lassen. Die Zeit vor der Einführung der stundenschlagenden Uhr wird in vielen Städten Europas als Entwicklung immer reichhaltigerer akustischer Umwelten geschildert. Es gab eine Vielzahl verschiedenster Glocken mit unterschiedlichen Funktionen und Bedeutungen. In Mailand gab es z.B. im Jahre 1288 bei einer Einwohnerzahl von 200.000 allein über 200 Kirchenglocken, die alle ihre Funktion hatten und in bestimmten Abständen zu hören waren. Ein Wanderer, der sich um 1300 Florenz am Morgen eines Festtages näherte, konnte schon von weitem das Geläute von mehr als 80 Glocken hören. Es gab Gebetsglocken, Ratsglocken, Totenglocken, Glocken, die den Sitzungsbeginn der Gerichte anzeigten, den Beginn und das Ende des Stadtwachens, das Öffnen und Schließen der Stadttore, Glocken für Märkte, Schulen und Universitäten, Kehrglocken, um die Hausbesitzer an die vorgeschriebene Reinigung der Straßen zu erinnern, usw. usf. Todesurteile, Verbannungen, Versteigerungen, wichtige öffentliche Termine wurden “an die große Glocke gehängt“. Ein Bürger, der sich in der Stadt auskennen wollte, mußte wissen, „was die Glocke geschlagen hat“, wenn er „etwas läuten hörte“.

Alle regelmäßigen Glockensignale waren auch Zeitsignale, allerdings immer im Rahmen eines Stunden-Konzeptes, das von der Jahreszeit abhängig war (das Konzept der Temporalstunden). Die stundenschlagenden Uhren, die 24 gleich lange Stunden, unabhängig von der Jahreszeit schlugen (das Konzept der Äquinoktialstunden), waren anfangs nur ein zusätzliches Glockensignal unter vielen anderen, deren Bedeutung von den meisten nicht erkannt und manchmal auch als Ärgernis empfunden wurde. Im reichen Klangensemble mittelalterlicher Städte gab es am Anfang keinen Bedarf für eine neue Zeit-Zählung. Die Einführung der öffentlichen Uhren erfolgte aus Prestige-Gründen. Die Stadtherren stellten eine technologische Sensation und zugleich ihren Reichtum, ihre Aufgeschlossenheit gegenüber Neuerungen und ihre Tatkraft zur Schau. Die rasche Verbreitung der öffentlichen Uhren war auch ein Wettkampf der Städte um eine teure und prestigeträchtige Innovation.

Der Wandel des Zeit-Bewußtseins, zuerst in den Städten, war ein langsamer, anonymer Mentalitäts-Wandel, der von keiner Instanz verordnet wurde und von den Zeitgenossen nicht erkannt und nicht reflektiert wurde.[80] Nach und nach, ganz allmählich, ersetzten die stundenschlagenden Uhren eine Vielzahl anderer Glocken. Die Bürger lernten dabei auf auditive Weise die Stunden als „gleich lange Stunden“ zu denken, sie sich innerlich als „gleich lange Strecken“ vorzustellen. Die Vielzahl der Abstraktions-Schritte, die dabei erlernt werden mußten, sind für uns heute kaum noch nachzuvollziehen. Es mußte von Rhythmen der Natur  wie vom Sonnenaufgang, dem Stand der Sonne, den Lichtverhältnissen, den eigenen Schlafbedürfnissen, von Rhythmen des sozialen Lebens wie von unterschiedlichen Längen einer kirchlichen Messe, einer Versammlung, eines Produktionsvorganges oder von anderen Zeit-Signalen wie dem unregelmäßigen Geläute anderer Glocken abstrahiert werden.

Die lineare Zeit wurde kollektiv als soziale Regulierungs-Idee erfunden. Sie tritt zuerst in Form von „sozialer Zeit“ auf:[81] kirchliche und städtische Autoritäten regeln durch Glockensignale gesellschaftliche Abläufe, die ihnen wichtig erschienen. Der Uhren-Gang der Dinge kommt von oben, von den Türmen über den Köpfen der Menschen, von Personen einer oberen Gesellschaftsschicht, und geht von da nach unten, zu den einfachen Leuten, auf die Dörfer und das freie Land hinaus, – und schließlich nach innen.[82] Die neue Zeit wird verinnerlicht, eine innere Uhr beginnt zu ticken.

Viele Aspekte dieses Prozesses lassen sich aus der großen Zahl städtischer Statuten ganz im Detail nachvollziehen.[83] In Hundert vergleichbaren Festlegungen von Sitzungszeiten tauchen am Ende des 14. Jahrhunderts vereinzelt, im 15. Jahrhundert immer häufiger Stundenangaben auf. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts werden Zeitkontroll-Techniken für viele Gremien in zahlreichen Städten erlassen, vom 16. bis zum 18. Jahrhundert finden wir sie auch in Dorfordnungen. Beispiele sind die Regulierung von Arbeitszeiten der Zünfte, die festgelegten Marktzeiten, Uhrzeitregelungen für städtische Schulen (die „Stundenpläne, – ein Begriff, der vermutlich erst Ende des 18. Jahrhunderts aufkommt), Zeitregelungen für Gottesdienste, Befristungen der Folter und viele Festlegungen in den Hof- und Kanzleiordnungen des 16. und 17. Jahrhunderts. „Trotz solcher Beispiele bleiben die explizit koordinierenden zeitlichen Regelungen in den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten relativ selten. Die durch die Uhren im Prinzip mögliche unendliche Differenzierung der Zeitordnungen „nach innen“ ist nur in Ansätzen realisiert worden.“[84]

Im ersten Jahrhundert ihrer Erfindung beschränkten sich die Uhren meist auf die Angabe ganzer Stunden. Zwischen dem Ende des 14. und dem Anfang des 15. Jahrhunderts kommt es erst zögernd, dann mehr und mehr zur Ergänzung der Zeitangabe durch Betonung der Viertelstunde, auch durch Glockensignale.[85] Minuten oder gar Sekunden waren mindestens bis Ende des 16. Jahrhunderts im gewöhnlichen Gebrauch unbekannt. Sie finden sich nur in theoretischen und astronomischen Texten und dort auch nur als theoretische, nicht als meßbare Zeiteinheiten.[86] Auch ein „Gefühl“ für kleinere Zeiteinheiten war noch nicht entwickelt. Um 1450 schlägt ein Medizin-Professor in einem Traktat vor, den Unterschied zwischen dem Puls eines gesunden und eines Kranken zu messen. Weil er keine geeignetes Zeitmaß kennt, empfiehlt er seinen Kollegen, sie sollten sich von Musikern im dirigierenden Takt-Gehen unterweisen lassen. Diese Kunst sei, so meint er, in acht Stunden (!) durchaus zu lernen.[87]

Öffentliche Uhren mit Ziffernblättern, d.h. eine optische Zeitangabe, sind seit Beginn des 15. Jahrhunderts verbreitet. Gleichzeitig halten Uhren in wohlhabende Haushalte Einzug. Um 1430 ist die Technik mit Federzug und Schnecke ausgereift, sie beschleunigt die Entwicklung tragbarer Uhren („Nürnberger Ei“).[88] Mit dem Ziffernblatt und den Haus- und Taschenuhren schulen sich Menschen im visuellen Zeit-Denken. Uhren waren jetzt auch ständig sichtbar. Die Zeit konnte zu jedem Zeit-Punkt gesehen werden, eine visuelle innere Zeit-Vorstellung konnte sich langsam entwickeln.

Der Aufbau des modernen Zeit-Gefühls war ein jahrhundertelanger Prozeß. Es dauerte lange Zeit, bis Uhren allgemein verfügbar waren und der ständige Blick auf die Uhr zur Selbstverständlichkeit wurde: „In der Tat war der Besitz einer Haus- oder Taschenuhr lange Zeit auf die wohlhabenden Bevölkerungsschichten beschränkt, die Uhren als ein Zeichen ihres Reichtums und weniger als soziale Notwendigkeit betrachteten. Noch Mitte des 17. Jahrhunderts stellen wir fest, daß auch wichtige Regierungsbeamte, wie etwa der dreißigjährige Samuel Pepys (1633 – 1703), keine Uhr besaßen. Statt dessen richtete sich Pepys wie die meisten seiner Zeitgenossen nach dem Läuten der Kirchenglocken in London und gelegentlich nach einer Sonnenuhr. Folglich wurden nur wenige Verabredungen getroffen. Pepys pendelte vielmehr ständig zwischen öffentlichen Gebäuden, Kaffee- und Wirtshäusern hin und her, in der Hoffnung, irgendwelche Geschäfte tätigen zu können. Häufig suchte er auch den Lord High Admiral James, Herzog von York, zuhause auf, nur um dann festzustellen, daß dieser auf die Jagd gegangen war. Die Zeit hatte für ihn und die meisten seiner Zeigenossen einen völlig anderen Stellenwert als für uns“.[89]

Im geschichtlichen Rückblick sind es wiederum die italienischen Kaufleute und Bankiers im 13. und 14. Jahrhundert, die als soziale Gruppe erstmals den Umgang mit moderner linearer Zeit praktizieren. Der Zeit-Aspekt ökonomischer Handlungen, ausgerichtet am Konzept abstrakter und linearer Zeit, ist eine der mentalen Grundlagen des Kapitalismus und entsteht zugleich mit diesem. Die italienischen Kaufleute praktizieren ein Zukunfts-Denken, das sie von ihren Zeitgenossen deutlich unterscheidet. In diesem Denken wird auch das alte Konzept von “segmentierter Zeit” gesprengt, – eine Zeit, die in qualitativ verschiedene Zeiten zerfällt. Im Mittelalter waren z.B. Markt- und Geldgeschäfte strikt auf bestimmte Zeiten festgelegt. Ein Beispiel sind die Champagne-Messen, die im Hochmittelalter für den Fernhandel und für Kreditgeschäfte eine besondere Rolle spielten[90]. Dabei war in einem Zyklus über ein Jahr auf den Tag genau geregelt, wann (und in welcher von vier Städten der Champagne) Handel betrieben werden durfte, wann Geldgeschäfte abzuwickeln waren, wann Schuldscheine ausgestellt werden durften und wann sie eingelöst werden mußten. Die italienischen Bankiers lösen dieses Zeit-Schema auf und bieten Geld- und Finanzgeschäfte außerhalb dieser Termine an.[91] Die heterogenen Zeiten von Handel und Kredit werden zur homogenen Zeit, in der jederzeit Geschäfte abgewickelt werden können. Zeit wird schließlich zu Geld, – ein Spruch, der vermutlich aus dem 16. Jahrhundert stammt.

In diesem Denken kann Zeit mit Geld gekoppelt werden, der moderne Zinsbegriff entsteht. Im mittelalterlichen Denken sind Zinsen verpönt. Zeit ist nicht Geld. Thomas von Aquin weiß sehr wohl, daß Zinsen positiv mit der Zeit korrelieren, aber in seinem Denken besteht gerade darin das Problem. Ökonomische Phänomene können von ihm nicht als Funktion “der” Zeit gedacht werden, weil “die” neutrale, abstrakte Zeit für ihn nicht existiert. Die Geldsumme heute und die Geldsumme morgen sind wesensmäßig ident: Zinszahlungen widersprechen dem Prinzip kommutativer Gerechtigkeit. Sie sind Zahlungen für etwas Nichtexistentes oder Doppelzahlungen. Zeit wird von ihm als göttliche Zeit gedeutet. Sie steht allen Menschen als gemeinsames Gut zur Verfügung: jemand, der Geld auf Zinsen leiht, begeht einen sündhaften Betrug[92]

5.   Die Geschichte des Ich

Die Grund-Konzepte von Objekt, Zahl, Geld, Raum und Zeit haben mit Grund-Konzepten vom Subjekt unmittelbar zu tun. Das moderne Konzept, eines autonomen, freien, selbstbestimmten Individuums (ein impliziter Hintergrund des Homo Oeconomicus in seinen verschiedenen Versionen) ist eine historische Figur, die im Mittelalter nicht zu finden ist. Im Mittelalter gibt es kein Subjekt, das dem Objekt, dem Gegen-Stand, in prinzipieller Trennung gegenüber-steht.[93] Es gibt kein isoliertes Subjekt in Distanz zum Objekt (in abstraktem Raum und abstrakter Zeit). Subjekt und Objekt werden symbolisch gedacht. Alles ist in ein symbolisches Netz gestellt: Dinge und Menschen existieren in erfülltem Raum und erfüllter Zeit. Das Subjekt und das Objekt, das Ich und die Umwelt werden zwar begrifflich getrennt, doch sie stehen in einem engen und direktem Zusammenhang.[94]

Das „Innen“ wird in dieser Denkweise nach „außen“ und das „Außen“ nach „innen“ gelegt. Der Natur werden persönliche Bezüge angeheftet, sie wird personifiziert. Wolken, Steine, Berge sind belebt, sie handeln wie aus eigenem Willen. Gleichzeitig werden die Merkmale der Natur zu Merkmalen des Menschen. „Die Menschen beobachten an sich dieselben Eigenschaften, die auch in der gesamten natürlichen Umwelt anzutreffen waren. Eigentlich nahm man sie nicht als „Umgebung“ oder „Umwelt“ wahr, sondern sie empfanden sich als ihr integraler Bestandteil, das sie selbst unmittelbar in den Kreislauf der Naturerscheinungen eingeschlossen waren.“[95]

Das mittelalterliche Ich ist ein faszinierendes Konstrukt. Es pendelt zwischen den Polen deutlicher Ichlosigkeit und starker Ichhaftigkeit. Der Durchschnittsmensch des Mittelalters empfand sich als Person, abgegrenzt von der Um-Welt, und zugleich als teilhabendes Wesen, verschmolzen mit der Mit-Welt.[96] Diese beiden Pole kennzeichnen auch die christliche Ethik dieser Zeit, – das zentrale Regulativ ökonomischen Handelns. Sie sprach jedem Menschen eine persönliche Seele zu und dämpfte zugleich ihre ichhaften Regungen. Im Mittelalter glaubten die Menschen an die Existenz einer persönlichen Seele. Sie glaubten, eine unzerstörbare Seele „zu sein“, es war ihr innerster Identitäts-Kern. Gleichzeitig verlangte die christliche Ethik, die Seele „rein zu halten“, ein Leben ohne „Sünde“ zu führen. Viele Sünden des Mittelalters waren „ichhafte“ Handlungen, die dem Homo Oeconomicus der Neuzeit eigen sind. Mumford meint, daß fünf der sieben „Todsünden“ des Mittelalters – Stolz, Neid, Geiz, Habsucht und Wollust – in der Neuzeit zu sozialen Tugenden umgeformt wurden.[97] Das mittelalterliche Konzept der Seele stärkte und schwächte das Ich zugleich. Das Ergebnis sind eigene Bewußtseins-Zustände, die für uns schwer nachzuvollziehen sind: Menschen mit einer persönlichen Seele sind so stark in das soziale Leben und in die Welt „eingetaucht“, daß die harten und prinzipiellen Grenzen zwischen „Ich“ und „Welt“, zwischen „Ich“ und „Du“, die unser Lebens-Gefühl prägen, nicht bekannt sind.

In dieser Gedanken-Welt sind Menschen keine isolierten Objekte, sondern lebende Symbole. Sie sind keine Einzel-Menschen, sondern System-Menschen. Menschen sind soziale Wesen, gesellschaftliche Wesen. Sie entstehen auch aus dem symbolischen Zusammenhang mit anderen Menschen. Das dominante Menschen-Konzept entspricht (wie übrigens in jeder Epoche) dem dominanten Dinge – Konzept: Menschen sind zweckhaft, werthaft und symbolhaft. Aus dem mittelalterlichen Entelechie-Konzept begründet sich auch ihr Ordo-Gedanke: allem wurde ein “natürlicher Ort” in einem streng hierarchischen System zugeschrieben. Der “natürliche Ort” eines Steins ist die Erde, der “natürliche Ort” eines Menschen ist sein Stand. Der Stand war eine Universalie, die eine über-menschliche objektive Existenz besaß. In diesem Konzept treten individuelle Persönlichkeitsmerkmale in den Hintergrund, soziale Merkmale in den Vordergrund.

Im Mittelalter waren die meisten Menschen in feste soziale Beziehungen eingebunden. Die Menschen dachten sich selbst als festen Teil sozialer Systeme. Die Menschen dachten sich nicht als isolierte Individuen, sondern als soziale Wesen, als Wesen, die wesenhaft sozial sind. „Bezeichnenderweise existiert das Individuum als solches für das Mittelalter lange Zeit gar nicht. Weder die Literatur noch die Kunst schildern eine Person in ihren Eigenarten. Der einzelne gilt als Vertreter seines Ranges, seiner gesellschaftlichen Stellung, er wird nach einem feststehenden Typus dargestellt.“[98] Das Wort „Individuum“ ist negativ besetzt. Ein Individuum ist derjenige, der sich durch irgendeine Missetat aus der Gruppe herausgelöst hat. Die Menschen können sich in dieser Welt nicht als kalkulierende Individuen verstehen, die nach ihrem persönlichen Vorteil streben. Sie handeln in der Regel nicht aus ihrem individuellen Interesse, sondern auf Grund von sozialen Normen und direkten Befehlen. „Eine solche Situation muß einen beständigen Druck auf den einzelnen dahingehend ausüben, daß sein wirtschaftliches Eigeninteresse soweit aus seinem Bewußtsein eliminiert wird, daß er in vielen Fällen (aber keineswegs in allen) nicht einmal fähig ist, die Bedeutung seiner eigenen Handlungen im Sinne eines solchen Interesses zu erfassen.“[99]

Rein materiell-wirtschaftliche Ziele können sich in diesem Denken nicht als kulturelle Massen-Ziele etablieren. Wenn es keine „Dinge“ und keine „isolierten Individuen“ gibt, dann können Menschen im allgemeinen und im Durchschnitt nicht nach dem persönlichen Besitz einzelner Dinge streben. Die Tatsache, daß es Dinge im privaten Besitz gibt, stellt für die Wirtschaftstheorie ein Rätsel dar, das eigens erklärt werden muß. Privates Eigentum steht im Gegensatz zum Konzept der Menschheit als integriertes Ganzes. Privateigentum ist eine menschliche Erfindung, kein Wesenszug des Menschen: “Die Natur kann sich nicht ihr Gegenteil verkehren und natürlich ist das Teilen”, meint der Spätscholastiker Gerald Odonis.[100] Privates Eigentum wurde in der scholastischen Wirtschaftstheorie limitativ gedacht und sittlichen und moralischen Auflagen unterstellt. Das ius necessitatis gibt dem Armen unter bestimmten Umständen das Recht, sich Besitz ohne Gegenleistung anzueignen. In diesem Denken gelten Personen mit einer materiellen Orientierung, wie Händler oder Geldverleiher, als moralisch minderwertig. (Im Inferno von Dante sind die Zinsverleiher auf einer tieferen Stufe als die Gotteslästerer.) Unternehmerisches Denken im neuzeitlichen Sinn gilt im Mittelalter als verpönt.[101] Der Gedanke an eine stetige Steigerung des Einkommens, an grenzenlose Bedürfnisse ist in diesem Welt-Bild undenkbar.  Die ideale Wirtschaftsform ist die „christliche Ökonomie“, eine stationäre Wirtschaft. Das Ziel ist ein immer wiederkehrendes „gute Leben“ (bene vivere), ein standesgemäßes Auskommen nach dem Prinzip der „gerechten Nahrung“.

Mit den neuzeitlichen Denk-Formen von Objekt, Raum und Zeit ist eine Neubewertung des Individuums verbunden.[102] Das Ich wird von Descartes radikal und prinzipiell von der Welt getrennt. Die mittelalterliche Vermengung von Subjekt und Objekt wird aufgelöst. Das neuzeitliche Ich versteht sich als getrennt von der Welt. In diesem Denken entsteht die neuzeitliche Außen-Welt – ein Komplex von Kategorien, den es vorher nicht gegeben hat und der als historische Mentalität auch wieder sein Ende finden könnte. Mit dem Konzept einer objektiven Außen-Welt entsteht der Entwurf einer subjektiven und privaten Innen-Welt, die Idee eines „innerlichen Menschen“. Die objektive Außen-Welt und die subjektive Innen-Welt sind wie zwei Seiten einer Medaille. Sie entstehen als kollektive Denkfiguren gleichzeitig und bedingen einander.[103]

In diesem Prozeß werden die Denk-Grundlagen für die neuzeitliche Wirtschaftstheorie geschaffen. Mit der Vorstellung einer getrennten Innen-Welt entsteht der Homo Oeconomicus: ein Individuum, das denkend-kalkulierend die von ihm getrennte Außen-Welt nach seinem subjektiven Interesse gestalten will.  Die Außen-Welt, die kalkulatorisch erfaßt werden kann, erscheint dabei als formales System, oft interpretiert als Maschine.[104] Die beiden großen Metaphern, die sich bei vielen Ökonomen finden, waren die Metaphern von der Uhr und von der Waage.[105] Die Metapher von der Uhr gibt die Ordnungsvorstellung des Absolutismus wieder: der Fürst steuert von außen den Staat, in Analogie zum deistischen Mechaniker-Gott, der von außen das Uhrwerk des Kosmos steuert. (Ein Beispiel für diese Konstruktion sind die Physiokraten, deren Uhrenmetapher sich auf Malebranche, einem Schüler von Descartes, bezieht.)[106] Die Metapher von der Waage gibt die Ordnungsvorstellung des Bürgertums wieder. Hier wird die Wirtschaft als ein sich selbst steuerndes System beschrieben. (Die populärste Version ist das Konzept des Marktpreismechanismus.) Die „Sozialphysik“ dieser Richtung bezieht sich direkt oder indirekt auf Newton, immer in spezifischen Übersetzungen und Anwendungen auf die Ökonomie. Wichtige Beispiele sind das naturtheologische Konzept der „natürlichen Freiheit“ bei Smith und der naturalistisch-materialistische Systembegriff bei Malthus und Ricardo. Der Höhepunkt der mechanistischen Metapher in der ökonomischen Theorie ist die frühe Neoklassik.[107] Die Wirtschaft wir hier als gänzlich berechenbares System gedacht (z.B. in der allgemeinen Gleichgewichtstheorie, eine Anwendung der Laplaceschen Kunstfigur eines allwissenden Dämon auf die ökonomische Sphäre), der Innen-Raum (die Präferenzordnung) wird als formales System in Analogie zum Feldbegriff in der Physik beschrieben und Zeit und Raum erscheinen als objektive Kategorien im Sinne von Newton.

6. Die Zukunft der Kategorien des Objekts, des Raumes, der Zeit und des Ichs

Wenn Objekt, Raum, Zeit und das Ich historisch gewachsene Denk-Formen sind, dann kann die Frage aufgeworfen werden, ob sie auch ein Ende finden könnten und ob es in der Gegenwart Indizien dafür gibt, daß diese Denk-Formen ihren prägenden Einfluß verlieren.

Auf diese Fragen kann es keine einfachen Antworten geben.  Eine wichtige Unterscheidung bezieht sich auf die impliziten “Hintergründe” eines Wissenschaftsgebietes im Unterschied zu denen im Alltag. Ein Wissenschafter, der Theorien entwirft, lebt zumindest in zwei “Welten”: in der Welt der Wissenschaft und in der Welt des Alltags. Die beiden Welten stehen miteinander in einem losen Zusammenhang. Ein theoretischer Ökonom setzt auch wirtschaftliche Handlungen, reflektiert über sie und versucht eine gewisse Kohärenz zu jenen Theorien herzustellen, die er als Wissenschafter vertritt. Gerade im Bereich der Sozialwissenschaften können wir von einer komplexen und losen Wechselwirkung von “Wissenschaft” und “Alltag” ausgehen. Ein Wechsel von Denk-Formen in einem Bereich hat nicht automatisch einen Wechsel im anderen Bereich zur Folge, kann aber dennoch längerfristig Wirkung zeitigen.

Im folgenden führe ich ein sehr einfaches Argument. Es bezieht sich  nur auf die neoklassische Mainstream-Ökonomie. Wenn man die neoklassische Theorie nach ihren Grundkonzepten befragt, dann kommt man schnell zur Antwort, daß diese Grundlagen nicht existieren, – weder in ihren philosophischen, methodologischen oder ontologischen Aspekten. Neoklassische Ansätze sind rationalistische Systeme im philosophischen Sinn. Der Rationalismus ist in der Philosophie auf breiter Front unter vehemente Kritik geraten. Für viele Philosophen gilt der Rationalismus heute als eine Form von Metaphysik.  Die autonome a priori gesetzte Vernunft, die sich selbst  begründen will, so wird gesagt, müsse notgedrungen reflexiv werden und in einen unauflösbaren Zirkel geraten.[108]  Ein anderes Argument bezieht sich auf die formale Methode selbst. Die sogenannte Grundlagenkrise in der Mathematik ab Beginn dieses Jahrhunderts hat gezeigt, daß die Mathematik als formale Methode nicht einmal ihren eigenen Erkenntnisbereich inhaltlich vollständig erfassen kann. Dieser Tatbestand sei für alle Anwender der Mathematik relevant, weil er auf systematische „Lücken“ in ihren Erkenntnisbereichen verweist, die die formale Methode prinzipiell nicht erfassen könne.[109] Weitere Argumente beziehen sich auf die Metapher von der Maschine und die Annahme einer „objektiven Realität“ im Erkenntnisbereich der Ökonomie. Die heutige Physik hat sich von der Vorstellung der Welt als Maschine schon lange verabschiedet. Materie ist definitiv keine Maschine und kann in keinem Maschinen-Modell erfaßt werden.

All diese Kritiken beziehen sich auf eine spezifische Grenzziehung zwischen Subjekt und Objekt, die in jedem Fall fragwürdig geworden ist. Die Neoklassik basiert auf der Annahme, eine solche Grenzziehung sei prinzipiell möglich: das Subjekt (z.B. seine Präferenzen) könne vom Objekt (z.B. den Restriktionen) prinzipiell und klar unterschieden werden.[110]  Die Neoklassik als „moderner“ Ansatz hat damit nach Ansicht „postmoderner“ Theoretiker ein Begründungsproblem. Viele Theoretiker der Postmoderne argumentieren, die großen Kategorien, auf denen die Natur- und Sozialwissenschaften im 18. und 19. Jahrhunderts basierten, seien im 20. Jahrhundert unwiderruflich zerstört worden. Dabei werden auch die Gemeinsamkeiten der Neuzeit seit der Wissenschaftlichen Revolution betont und die Neuzeit bzw. die Moderne mehr und mehr als zusammmenhängende Epoche betrachtet.[111] Die summarische Kritik an den Grundkonzepten der Moderne kann auch auf die neoklassische Wirtschaftstheorie bezogen werden, die sich von den Basisannahmen nicht wirklich entfernt hat, die in ihrer Entstehungszeit im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts formuliert wurden.  Die postmoderne Kritik wird von neoklassischen Theoretikern zur Zeit (noch) nicht zur Kenntnis genommen, – vermutlich auch, weil überzeugende alternative Paradigmen nicht verfügbar sind.

Diese Situation könnte auch mit der Diskrepanz zu den Denk-Formen des Alltags zu tun haben. Ein Neoklassiker, der von der Zerstörung des impliziten Weltbildes seines Ansatzes liest, kann dieser Kritik vielleicht dann keinen „Sinn“ geben, wenn er keine Diskrepanz zu den offensichtlichen Denk-Formen in seinem wirtschaftlichen Alltagshandeln wahrnehmen kann. Der Alltag einer kapitalistischen Ökonomie folgt, so könnte man meinen, offensichtlich den Mentalitäten einer popularisierten Newtonschen Welt: eine Welt mit Objekten, mit objektiv-absolutem Raum und Zeit und mit individuellen Subjekten, wie sie die Metapher vom Homo Oeconomicus meint. Mit anderen Worten: die theoretisch-prinzipiellen Kritiken an der mechanistischen Metapher, an der angenommenen Subjekt-Objekt-Dichotomie, am Konzept der Rationaliät und an der Moderne bzw. der Neuzeit generell bleiben „unverstanden“, weil ihnen kein Stellenwert für die Praxis kapitalistischen Wirtschaftens zugeordnet werden kann. Sie wird negiert oder als vielleicht interessantes theoretisches „Puzzle“ abgelegt, aber nicht systematisch reflektiert.

Im Gegensatz dazu weisen viele Indizien darauf hin, daß sich im Alltag die alten Newtonschen Kategorien, die für ein Verständnis der Alltags-Orientierung, zumindest ab dem 18. Jahrhundert, von fundamentaler Bedeutung sind, allmählich ändern. Dies gilt meines Erachtens vor allem für die Kategorien des Raum und des Ichs. Dieser Prozeß könnte, wenn er von Ökonomen reflektiert wird, für die ökonomische Theorie der Zukunft von grundlegender Bedeutung sein.

Die Indizien für eine zunehmende „Raumlosigkeit“ sind bekannt: die enorme Beschleunigung von Transport- und Kommunikationsystemen, global agierende Konzerne, globalisierte Märkte, die Verbreitung des Internet und des Handy, die Auslagerung von Arbeitsprozessen aus dem Büro, virtuelle Unternehmen, das Auftreten neuer globaler Gemeinschaften, z.B. für ökologische Anliegen, bis hin zu virtuellen Gemeinschaften. Ein großer Trend geht dahin, soziale und wirtschaftliche Aktivitäten in einer Weise zu organisieren, bei der die Kategorie des Raumes eine geringe oder keine Rolle mehr spielt. Im Cyberspace ist der geographische Ort bedeutungslos. Die Kategorie des Raumes verliert an Bedeutung und fast alle Prognosen deuten darauf hin, daß sich dieser Trend in Zukunft beschleunigen wird. Im Alltag findet offensichtlich ein schleichender „Paradigmenwechsel“ statt, wo „Raum“ als kategoriales Fundament sozialer und wirtschaftlicher Institutionen an Bedeutung verliert. Dies könnte in Zukunft unter anderem für den Staat bedeutsam sein. Wenn der moderne Staat als Territorialstaat grundlegend auf der (historischen) Denk-Form des Raumes basiert, dann könnte eine zunehmende „Raumlosigkeit“ die konzeptionelles Basis des Staates ernsthaft unterhöhlen. Der Staat als soziale Kategorie könnte auch deshalb an Einfluß verlieren, weil immer mehr Menschen ihre sozialen und wirtschaftlichen Aktivitäten in einer Weise organisieren, in der die Denk-Form des Raumes nicht mehr benötigt wird. Raum verliert damit an „Realitätsbezug“, Teilbereiche des Lebens werden „nichträumlich“ organisiert und gedacht, – und alle Institutionen, die auf „Raum“ basieren, werden weniger „verständlich“.[112] Wenn sich Menschen teilweise als „raumlose“ Wesen denken, dann wird die Identifikation mit allen „raumhaften“ Institutionen abnehmen, – ein großer und tiefgehender Prozeß vergleichbar dem Wandel der Institutionen vom „raumlosen“ Mittelalter zur „raumhaften“ Neuzeit.

Das zeitgemäße „raumlose“ Denken hat jedoch mit der mittelalterlichen „Raumlosigkeit“ nichts zu tun, sie ist ein neuartiges Phänomen. In vielen Fällen weist es auf ein globales Bewußtsein hin: „Das Bewußtsein, einer Welt anzugehören, ist heutezutage als Kollektiverfahrung allen Menschen gemeinsam und stellt das bahnbrechend Neue an der zeitgemäßen Phase der Globalisierung dar. … Das zunehmende Bewußtsein, Teil eines größeren Ganzen zu sein, … durchzieht alle Lebens- und Wissensbereiche“[113] Das gilt sowohl für wirtschaftliche Vorgänge im engeren Sinne, wie globalisierte Devisen-, Anleihen- oder Aktienmärkten, transnationale Firmen oder den globalen Wettbewerb im Internet als auch für mehr „kulturelle“ Faktoren, wie die Ökologiebewegung, den Feminismus oder globale religiöse Gruppen. Hier gelten in der Regel globale Standards, globale Referenzsysteme gewinnen an Bedeutung. Viele dieser neuen Formen sind „enträumlicht“: geographische Orte als primäre Bezugspunkte der Identität und des Alltags werden weniger wichtig und werden von Gemeinschaften oder Kontakten über die gesamte Welt abgelöst. (Ein weiteres Beispiel ist die enge Verflechtung vieler Wissenschafter in einer globalen scientific community.) Die Entstehung eines globalen Bewußtseins könnte vielleicht eine historisch neue Epoche einleiten.

Mit diesen Prozessen ist auch ein Wandel in der Mentalität des Ichs verbunden.

Viele Autoren stimmen darin überein, daß das moderne neuzeitliche Ich einer tiefgehenden Transformation unterworfen ist. Dies bezieht sich sowohl auf das philosophische Ich, dessen „Tod“ von vielen Philosophen (z.B. Nietzsche, Heidegger, Vattimo, Foucault, Rorty) konstatiert wird als auch auf das im Alltag relevante „gelebte Ich“. Für letzteres wird eine „Auflösung“ und „Verflüssigung“ in „Teil-Ichs“ behauptet. Kennenzeichen der „alten“ Identität – man könnte sie der „Moderne“ zuordnen – sei eine Konstanz und Kohärenz über einen längeren Zeitraum hinweg. Die Menschen hätten sich in ihrem Selbst-Bild z.B. stärker an „objektiven Fakten“, wie ihr Einkommen, ihren Titel oder ihren Berufsstatus orientiert. Das Ideal war eine klare und eindeutige Persönlichkeit mit einer kohärenten Moral für alle Lebensbereiche. Bindungen an andere Menschen oder Institutionen seien prinzipieller Natur gewesen und seien längerfristig erfolgt,  z.B. an eine Firma oder einen Lebenspartner. Dem Ich wird hier eine Art „Kern-Identität“ zugesprochen. Sein Kennzeichen ist ein fester, eindeutiger und erkennbaren Charakter, er manifestiert sich im Gefühl einer stabiler und beständigen Identität.[114] Der reife Mensch, so wurde hier gesagt, sei „selbstgesteuert“, „solide“, „vertrauenswürdig“ und „beständig“,  – vereinfacht: er besitze eindeutige Eigenschaften wie ein physikalischer Gegenstand.[115] (Die neoklassische Variante dieser Idee ist die Annahme einer gegebenen transitiven Präferenzordnung, die längere Zeit konstant bleibt.)

In der Postmoderne hingegen wird eine „Auflösung“ der „Kern-Identität“ behauptet. Menschen seien hier flexibler und variabler, weniger an Konstanz und Kohärenz interessiert. Sie hätten die Fähigkeit, die Spannbreite und die Vielfältigkeit ihrer sozialen Beziehungen zu vergrößern, mit mehr Menschen in kurze, aber intensive Kontakte zu treten und dabei immer eine andere Seite ihres „Wesens“ zu zeigen – und weiterzuentwickeln. Die früher stabile und kohärente Identität spalte sich so in eine Vielzahl von variablen, einander widersprechenden Teil-Identitäten auf. Jede Person wird eine Mixtur von Identitäten, Beck spricht von „Patchwork-Identitäten.“[116] Eine Person könne jetzt nicht mehr eindeutig nach stabilen Charaktereigenschaften beschrieben werden. Die „Merkmale“ von Menschen seien vielfältiger und variabler Art. Was gerade im Vordergrund stehe, hängt vom jeweiligen sozialen Kontext ab und den Kontakten, die hier stattfinden. Gergen kommentiert diesen Prozeß als schreckhaften Vorgang, er spricht von „Multiphrenie“ in Analogie zur Schizophrenie. Zusammenfassend heißt es bei ihm: „Mit dem postmodernen Bewußtsein beginnt die Auflösung der Kategorie des Selbst. Man kann nicht mehr ermitteln, was es heißt eine bestimmte Person – männlich oder weiblich – oder sogar eine Person überhaupt zu sein. Während die Kategorie der individuellen Person aus dem Blickwinkel weicht, rückt das Bewußtsein der Konstruktion in den Brennpunkt. Wir erkennen zunehmend, daß wer und was wir sind, nicht so sehr das Ergebnis unseres „persönlichen Wesens“ (wahrer Gefühle, tiefer Überzeugungen und dergleichen) ist, sondern dessen, wie wir in unterschiedlichen sozialen Gruppen organisiert sind. Die Anfangsstadien dieses Bewußtseins führen zu einem Empfinden des Selbst als einem sozialen Verwandlungkünstler, der sein Image manipuliert, um Ziele zu erreichen. Wenn die Kategorie des „wahren Selbst“ dann weiter aus dem Blickfeld rückt, wird man zur gemischten Persönlichkeit. Zusammenhang und Widerspruch verlieren an Bedeutung. … Mit der Aushöhlung der Unterscheidung zwischen Wirklichem und Entworfenem, Manier und Substanz ist das Konzept des individuellen Selbst nicht mehr verständlich.“[117]

Andere Autoren kommentieren den Prozeß der „Auflösung des Ichs“ positiv bzw. können darin positive Aspekte und Chancen erkennen. Goebel und Clermont (1997) beschreiben die Generation der nach 1965 Geborenen als „Lebensästheten“, die die „Tugend der Orientierunglosigkeit“ (so der Titel ihres Werkes) als positiven Wert leben. Ihr Kennzeichen ist eine scheinbare Amoralität, die Schaffung individualistischer Lebensentwürfe nach selbstgewählten ästhetischen Kriterien. Der traditionelle durch Incentives (von außen gesteuerte) Homo Oeconomicus verliert nach dieser Beschreibung an Gewicht, ökonomische „Zwänge“ nehmen ab. Das Selbstwertgefühl habe sich vom wirtschaftlichen Erfolg entkoppelt, „McJobs“ werden ohne Versagergefühle erlebt, Arbeitslosigkeit gilt nicht als Schande. Lineare Lebensverläufe gelten hier als nicht attraktiv, Gelderwerb und sinnstiftende Tätigkeit sind weitgehend entkoppelt. Nach den Autoren habe eine ganze Generation vom Karrieredenken Abschied  genommen, – nicht jedoch vom Gelddenken: „Ob das Einkommen im klassischen Angestelltenverhältnis, als Unternehmer, auf dem informellen Arbeitsmarkt, in Form sozialer Tranfers oder auch familiärer Unterstützung oder Erbschaften erworben wird, ist eher uninteressant.“[118] Das Ziel ist die individuelle Selbstverwirklichung, nicht das Erlangen von Sozialprestige.

„Das Basteln am eigenen Leben ist zur Kollektiverfahrung unserer westlichen Welt geworden“ meinen Breidenbach und Zukrigl.[119] Nach ihrer Meinung findet der Prozeß der zunehmenden Differenzierung seine Entsprechung im globalen Maßstab. Die Globalisierung der Welt wird von ihnen weder als zunehmende  Homogenierung (das Klischee der totalen Weltangleichung) noch als zunehmende Fragmentierung einst intakter Gesellschaften beschrieben. Die Autorinnen deuten die Globalisierung auch als Prozeß, der in Zukunft das Entstehen einer „Kultur der Kulturen“ ermöglichen könnte, in der einzelne Gemeinschaften sich auf der Basis eines globalen Referenzrahmens differenzieren können. Die Ausdifferenzierung des Ichs in Teil-Ichs, der Gesellschaft in radikal individualisierte Personen und der Welt in zunehmende Teilkulturen erscheint hier als ein gemeinsamer Prozeß. „Enträumlichung“ und „Auflösung des Kern-Ichs“ werden hier zu begleitenden und einander verstärkenden Vorgängen.

Wenn die These von einem großen Wandel in den Grund-Kategorien von Raum und Ich Sinn macht oder zumindest in Teilbereichen plausibel ist, dann sind davon alle Phänomene betroffen, die für Ökonomen von Interesse sind.

Wie könnte eine ökonomische Theorie der Zukunft aussehen, bei der die Denk-Formen vom Raum und vom Ich neu definiert werden?

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[1] Ein prominentes Beispiel ist Pribram 1992.

[2] Vgl. Mirowski 1990 und Ötsch 1993.

[3] Polanyi 1978.

[4] Foucault 1993.

[5] Rothbard 1995.

[6]Vgl. Schefold 1994, 73ff.

[7]Vgl Minois 1996. Das Standardwerk ist Le Goff 1984.

[8]Vgl. Favier 1992, 351ff. und Minois 1996, 232ff.

[9] Mit Mittelalter meine ich vereinfacht das frühe und das späte Mittelalter. Mit der Renaissance des “Mittelalters“ (im 12. Jahrhundert) setzt bereits eine Gegenströmung ein, die schrittweise und langsam zu den Grundkategorien der Neuzeit führt.

[10]Vgl. Gloy 1995, 1. bis 3. Teil., Foucault 1993, Kap. 2., Berman 1983, 63 ff. und Merchant 1987, Kap. 1.

[11]Foucault 1993, 60.

[12]Vgl. Langholm 1992, 564.

[13]Vgl. Pribram 1992, 38. Damit handelte man sich auch verwirrende Probleme ein, die man später als Wertparadoxon bezeichnet hat, und die scholastische Wirtschaftstheorie nicht lösen konnte: wie kann eine Perle einen hohen Pereis erzielen und eine Maus keinen, obwohl die Klasse der Maus nach der Perle erschaffen wurde und deshalb einem höheren Rang zuzuordnen wäre ?

[14]Vgl. Schreiber 1913, 22.

[15]Vgl. die ausführliche Diskussion in Langholm 1992.

[16]Vgl. Pribram 1992, 41.

[17]Menninger 1979, Band I, 19ff. spricht von einer „haftenden Zählreihe“: die Zahlwörter sind an Dingen angeheftet.

[18]ebenda, 43.

[19]Zur Entwicklung der römischen Zahlen vgl. Ifrah 1992, 133ff. Menninger 1979, Band I, 50ff. und Band II, 86ff. informiert über die Geschichte der römischen Zahlzeichen im Mittelalter.

[20]Die Zahl 2.200.000 z.B., die sich auf der Columna Rostrata auf dem Forum Romanum (als Andenken an den Seesieg bei Mylaee im Jahre 260 v. Chr.) findet, wurde  mit 22 Hunderttausender-Zeichen angeschrieben; nach Hunke 1976, 37.

[21]Rotman 1993, 10.

[22]Vgl. Ifrah 1992, 133.

[23]Das lateinische Wort „calculare“ heißt wörtlich „mit Steinen umgehen“, „steineln“. Es stammt von „calx“ bzw. „calculus“ für „Kalkstein,“ „Stein“ ab und weist auf das Rechenbrett hin. Die heutige Bedeutung von „rechnen“, „überlegen“ bekommt es erst im 17. Jahrhundert.

[24]Ifrah 1992, 220.

[25]Menninger 1979, Band II, 214.

[26]Vgl Ifrah 1992, 176ff. , Gendolla 1992, 30., Menninger 1979, Band II, 207ff. und Rotman 1993, 39.

[27]Unser arabische Erbe zeigt sich noch in der Art, wie wir im Deutschen Zahlen lesen. Wir lesen z.B. die Zahl 64 als „vier-und-sechzig“, d.h. von rechts nach links, – so wie die Araber diese Zahlen schreiben: ihre Schrift geht von rechts nach links.

[28] Rotman 1993, 39 und Menninger 1979, Band II, 215.

[29]Das älteste Zeugnis für den Gebrauch der Ziffer Null in Europa ist eine spanische Handschrift aus dem Jahre 976. Vgl. Ifrah 1992, 219.

[30]Selbst Gerbert, der spätere Papst Silvester II, der von manchen als der erste Abendländer bezeichnet wird, der arabischen Ziffern verwendet, versteht um die Jahrtausendwende das Konzept der Null nicht. Er verwendet sie als Zeichen, begreift aber nicht, wozu sie dienen. Sie erhalten sich einige Zeit in einigen Klosterhandschriften und geraten dann wieder in Vergessenheit. Vgl. Rotman 1993, 43 ff.

[31]nach Ifrah 1992, 228.

[32]Das berühmte Beispiel ist der Liber Abaci von Leonardo von Pisa, später Leonardo Fibonacci genannt, aus dem Jahre 1202. Vgl. Menninger 1979, Band II, 242ff..

[33]Im Detail bei Rotman 1993.

[34]Vgl. Rotman 1993.

[35]In den Rechnungsbüchern der freien Reichstadt Augsburg z.B., die seit dem Jahre 1320 vorhanden sind, werden ab 1470 Zahlen zweifach angeschrieben: als römische Zahlen im Text und als arabische als Summen am Rand. Es dauert noch ein halbes Jahrhundert, bis hier die Beträge nur noch in der neuen Zahlschrift geschrieben sind.

[36]Menninger 1979, Band II, 99.

[37]Ifrah 1992, 212.

[38] Meilensteine sind die “Entdeckung” (man sollte besser sagen: Erfindung) der negativen Zahlen durch Fibonacci, der imaginären Zahlen durch Cardano (1545), der Logarithmen durch Neper (1617) und das Konzept der Variable durch Vieta (Ende des 17. Jahrhunderts).

[39]Vgl. Foucault 1993, 53.

[40]Le Goff 1970, 226.

[41]Panofsky 1994, 48ff.

[42]Panofsky, Erwin: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaften, Berlin 1985, 114; zitiert nach Kleinspehn 1989, 45.

[43]Arnheim 1978, 274.

[44]Vgl. Gombrich 1996, Kap. 9, Burckhardt 1994, Kap. 1.

[45] Vgl. Burckhardt 1994, 30 ff.

[46]Vgl. Arnheim 1978, Bellosi 1989, Levey 1962, Rotman 1993, Kleinspehn 1989, 47ff. und Gebser 1992.

[47]Koyré 1980.

[48] Im Mittelalter waren alle diesbezüglichen anatomischen Details bekannt, man konnte den Körper aber nicht als abgeschlossenes Raum–Objekt denken. Der Körper war z.B. zum Universum hin offen (der Einfluß der Gestirne), Gefühle waren auch außerhalb des Körpers angesiedelt und konnten sich des Körpers bemächtigen (die Theorie der Besessenheit) und der Körper selbst zerfiel in qualitativ unterschiedliche Teilsysteme (z.B. in die vier Säfte der Galenischen Humoralmedizin). Zur Geschichte der Kreislauf–Idee in der Medizin vgl. Fuchs 1992.

[49]Vgl. damit Rieters Deutung des Tableaux Économique als mechanisches System in der Nachfolge von Descartes und Malebranches

[50]Vgl. Bürgin 1993, 237ff.

[51] nach Anderson 1996, 27.

[52]Bauer und Matis 1988, 191.

[53]Vgl. Heckscher 1932, 435 ff.

[54]Das folgende nach Sulzgruber 1993, 22ff.

[55]Vgl. Wendorff 1985, 77ff. , Hohn 1984, 17ff.

[56]nach Bodmann 1992, 38ff.

[57] Whitrow 1991, 136.

[58] Pernoud, R., Joan of Arc, Harmondsworth 1969, 31; zitiert nach Whitrow 1991, 135.

[59]Vgl. E. Leach, Rethinking Anthropology, London School of Economics, Monographs in Social Anthropology, Nr. 22, Abb. 17, 1971, wo das Bild einer diskontinuierlichen Zeit-Spirale zu finden ist; zitiert nach Aveni 1991, 82f.

[60]Das Folgende nach Sulzgruber 1993, 23 ff.

[61]Vgl. Dimt, Gunter: Mensch und Kosmos in den Kalenderpraktiken des 16. bis 18. Jahrhunderts, in: Seipel 1990, 215ff.

[62]Gurjewitsch 1997, 106ff.

[63]Le Goff 1970, 619.

[64]Bodmann 1992, 134.

[65]Gurjewitsch 1997, 68.

[66]Sulzgruber 1993, 5.

[67]Whitrow 1991, 135 mit Bezug auf Glasser, Roland: Studien zur Geschichte des französischen Zeitbegriffes, Max Huber Verlag, München 1936.

[68]Le Roy Ladurie 1983, 305.

[69]ebenda.

[70]Borst 1983, Alltagsleben, 552; zitiert nach Bauer und Matis 1988, 23.

[71]Berman 1983, 50.

[72]Le Goff 1970, 293.

[73]Vgl. Wendorff 1985, 104ff. und Gendolla 1992, 38.

[74]Glasser, Richard: Studien zur Geschichte des französischen Zeitbegriffes, München 1936, 50f; zitiert nach Wendorff 1985, 108.

[75]Als Überblick über verschiedene Thesen zur Entwicklung der linearen Zeit im Abendland vgl. Dorn-van Rossum 1992, 16ff.

[76]Das Folgende nach Dorn-van Rossum 1992, 49 ff.

[77]ebenda, 108.

[78]Dorn-van Rossum 1992, 155.

[79]ebenda, 189 ff.

[80]ebenda, 251 ff.

[81]Elias 1990.

[82]Vgl. Gendolla 1992, 42ff.

[83]Das folgende nach Dorn-van Rossum 1992, 217ff.

[84]ebenda, 259.

[85]nach Wendorff 1985, 149.

[86]nach Dorn-van Rossum 1992, 261.

[87]Savonorola, Michaela: De febris, de pulsibus, de urinis…, Venedig 1498; zitiert nach Kümmel, W.F.: Zum Tempo der italienischen Mensuralmusik des 15. Jahrhunderts, in: Acta Musicologica, 42, 1970, 153; hier zitiert nach Dorn-van Rossum 1992, 263.

[88]Vgl. Dorn-van Rossum 1992, 116ff.

[89]Whitrow 1991, 175f.

[90]Vgl. Kaufer 1998, 44ff. und 86ff.

[91]Vgl. Pirenne 1994, 129ff.

[92] nach Pribram 1992, 49. Für eine ausführliche Diskussion dieser Argumente vgl. Langholm 1992. Neben dem Zeit-Argument gab es drei andere Standardargumente der Scholastiker gegen den Wucher: das Eigentumsargument (mit der Überlassung von Geld wird auch Eigentum übertragen, der Schuldner muß dem Gläubiger nur die wertmäßig gleiche Summe rückerstatten), das Verbrauchsargument (Geld ist nur Tauschmittel, der Gebrauch des Geldes ist sein Verbrauch im Tausch) und das Unfruchtbarkeitsargument (Geld ist unfruchtbar. Es vermag nichts aus sich alleine, d.h. Zinsen als Preis des Geldes widersprechen seiner Natur). Als Kurzüberblick vgl. Meierwert und Bruns 1996.

[93]Vgl. Burckhardt 1994, 154 ff. In diesem Buch wird der Wahrnehmungswandel von Raum, Zeit, Objekt und Ich ab dem 12, Jahrhundert plastisch beschrieben.

[94]Gebser 1992, 36.

[95]Gurjewitsch 1997, 43.

[96]Zum Personen-Begriff der Antike und des Mittelalters vgl. Gurjewitsch 1994, 86ff., 116ff. und 296ff.

[97]Vgl. Mumford 1981, 316.

[98]Gebser 1992, 37.

[99]Polanyi 1978, 75.

[100]nach Langholm 1992, 570.

[101]Le Goff, 367 ff., Bauer und Matis, 32 ff.; Faber und Manstetten 1988, 105.

[102]Eine Fülle von Befunden finden sich in Dülmen 1997.

[103]Die zwei großen Metaphern, mit denen die Außen-Welt und die Innen-Welt beschrieben wurden, waren die Metapher von der Maschine – für die Außenwelt – und die Metapher von der Camera Obscura – für die Innenwelt: ein „Geist in der Maschine“ sitzt in einem dunklen Innen-Raum und betrachtet eine Projektionsfläche, wo Strahlen von außen durch ein Loch ein Abbild der Außenwelt formen. Vgl. Crary 1996, Kap. 2.

[104]Einen Kurzüberblick über die Geschichte der mechanistischen Metapher in der Ökonomie gibt Ötsch 1993.

[105]Mayr 1987.

[106]Rieter 1990.

[107]Vgl. Ötsch 1990, Kap. 4.

[108]Als Zusammenfassung vgl. Rehfus 1990, 86ff.

[109]Vgl. Winrich 1984, Blaseio 1986 und Ötsch 1991.

[110]Vgl. Ötsch 1996.

[111]Z.B. Bermann 1983, Rehfuss 1990, Foucault 1993, Mittelstraß 1992, Rorty 1987, Toulmin 1994 und Taylor 1994.

[112]Vgl. Knoke 1996.

[113]Breidenbach und Zukrigl 1998, 34.

[114]Vgl. Gergen 1996, 77ff.

[115]Ideengeschichtlich kann man zeigen, daß die dominanten Menschenbilder in den mechanistischen Versionen der ökonomischen Theorie Individuen in Analogie zu Atomen beschreiben und daß sich die Bilder von Menschen (z.B. in der Figur des Homo oeconomicus) zeitverzögert zu Neuinterpretationen des Atombegriffs verändert haben.

[116]Beck 1997.

[117]Gergen 1996, 276f.

[118]ebenda, 31.

[119]1998, 82.

[120] Eine umfangreiche Liste über zusätzliche Literatur zu den in diesem Paper angesprochenen Themen kann beim Autor bezogen werden.

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