Was ist das Soziale Panorama?

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Das „Soziale Panorama“ widmet sich der Frage, wie Menschen ihre sozialen Beziehungen zu anderen erleben und wie dies verändert werden kann.

Lucas A. C. Derks – Entdecker des „Sozialen Panoramas“ – untersucht seit Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts die Frage, wie Menschen ihre sozialen Beziehungen zu anderen mental repräsentieren und wie diese Repräsentationen verändert werden können. Dabei setzt er sich auf eine grundlegend neue Art und Weise mit zentralen Fragestellungen der Sozialpsychologie und der Psychotherapie auseinander.1

Die Forschungen Derks‘ umfassen sozialpsychologisch wie therapeutisch bedeutsame Fragestellungen. Hierzu gehören u.a.

  • die Herausbildung von Selbst-Erfahrung und Identität,
  • das Erleben von Ich-Stärke,
  • Selbstwert,
  • Beziehungsfähigkeit,
  • die unbewußten Mechanismen der Partnerwahl,
  • das Erleben von Zugehörigkeit und Ausgrenzung,
  • die subjektiven Grundlagen von Autorität, Dominanz und sozialer Macht,
  • die Mechanismen der Ausübung spiritueller Gewalt, sowie
  • die Veränderung von sozialen Systemen (Familien, Teams, …).

Derartige – für den therapeutischen Bereich unverzichtbare – Themen waren im klassischen NLP angelsächsischer Prägung kaum thematisiert worden. Amerikanisch geprägter Pragmatismus und die einseitige Orientierung auf „Exzellenz“ bildeten Randbedingungen, innerhalb derer sich eine vorwiegend auf das Ziel „individueller Optimierung und Zielerreichung“ ausgerichtete NLP-Kultur entwickelte. (Näheres zu den Entstehungsbedingungen des NLP finden Sie hier …)

Ein Verständnis des Menschen in seinen sozialen Bezügen waren die NLP-Entwickler bislang schuldig geblieben.

 

Der klassische „Modeling“-Begriff des NLP

Der Verzicht auf die Untersuchung sozialen Erlebens und Verhaltens hat seine Wurzeln im frühen Selbstverständnis der NLP-Entwickler.

In dem Klassiker „Neuro-Linguistic Programming: Volume I“ hatte John Grinder das NLP noch als das „Studium der Struktur subjektiver Erfahrung“ definiert.2

Spätestens seit Mitte der 90er Jahre lautete seine kategorische Antwort auf diese Frage jedoch:

„NLP is the modeling of excellence. … NLP ist das Modellieren von Exzellenz.“

Oder – ebenfalls auf Ebene der „Identität“:

„Neurolinguistisches Programmieren ist das Studium der Unterschiede, die den Unterschied zwischen der durchgehend hohen Leistungsfähigkeit eines Genies (entweder eines Indiviuums oder eines Teams) und der eines durchschnittlichen Performers in einem gegebenen Feld menschlichen Strebens ausmachen. Seine grundlegende und [das Feld] definierende Aktivität ist das Modellieren.“3

Grinders Definition des NLP als „Modeling of Excellence“ beinhaltet jedoch stark einschränkende Vorannahmen, die das NLP wertvoller Potentiale berauben.

Der Begriff des „Modellierens“ bezieht sich auf einen – im heutigen NLP ohnehin kaum praktizierten – Forschungsprozeß: Man eignet sich zunächst Verhaltenskompetenzen von Spitzenperformern an, um diese dann strukturell auf „Unterschiede, die den Unterschied“ zu Durchschnittsperformern machen, zu reduzieren. Im Kern werden Informationen also nach Unterschieden zwischen Menschen sortiert. Die einseitige Fokussierung auf „persönliche Exzellenz“ kann dabei als willkürliche Werteentscheidung der NLP-Begründer betrachtet werden.

Doch ist diese Entscheidung tatsächlich konstitutiv für das NLP? Liegt das Verbindende nicht vielmehr in der Arbeit mit der Struktur sensorischer Repräsentationen?

Derks’ Untersuchungen des „Sozialen Panoramas“ zeigen eindrucksvoll, daß „Modellieren“ auch grundlegend anders betrieben werden kann.

Sein Ansatz des „Population Modeling“ stellt die über Individuen hinweg gemeinsamen Muster in den Vordergrund. Daraus ergeben sich vollkommen neue Möglichkeiten für Diagnostik und Veränderungsarbeit.

 

„Population Modeling“ – ein Gegenentwurf

Gegenstand des Modellierens im „Sozialen Panorama“ sind nicht die Spitzenleistungen weniger herausragender Könner.

Untersucht werden grundlegende Fähigkeiten menschlicher Wesen. Von Interesse sind dabei weniger die Unterschiede in der unbewußten Musterbildung als vielmehr deren überindividuelle und transkulturelle Gemeinsamkeiten. Derks prägte für diesen Ansatz den Begriff des „Population Modeling“.

Dabei unterscheiden sich Forschungen im Rahmen des “Sozialen Panoramas” in einigen Punkten grundlegend vom klassisch angelsächsisch dominierten NLP:

Der Mensch wird im “Sozialen Panorama” in erster Linie als soziales Wesen konzipiert. Soziale Beziehungen und die Zugehörigkeit zu „sozialen Systemen“ gelten als essentiell für das menschliche Wohlbefinden. Die grundlegende Werteorientierung des „Sozialen Panoramas“ betont folgerichtig den Ausgleich und die Harmonisierung zwischenmenschlicher Beziehungen. „Individuelle Optimierung“ außerhalb sozialer Bezüge ist undenkbar.

Im Verlauf seiner Untersuchungen entdeckte Derks eine Reihe zentraler Einflußgrößen, die das soziale Erleben und Verhalten von Menschen determinieren. Auf der Basis klassischer NLP-Prinzipien entwickelte er eine Vielzahl von Diagnostik- und Interventionsformen, die unter der Bezeichnung „Soziales Panorama“ mittlerweile weltweit in fortgeschrittenen „NLP“-Seminaren unterrichtet werden.

 

Das „Soziale Panorama“

Das klassische NLP fokussiert in Fragen zwischenmenschlicher Beziehungen im wesentlichen auf mentale Repräsentationen, die mit einem spezifischen „Raum-Zeit“-Index versehen sind (z.B. Person A gestern in Situation X, Person B in 3 Jahren in Situation Y usw. usf.) Derartige raum-zeitlich spezifizierte Repräsentationen (Erinnerungsbilder) werden daher als zentrale Strukturelemente der meisten „NLP“-Veränderungsmethoden genutzt.

Demgegenüber betont das „Soziale Panorama“, daß Menschen ihre zwischenmenschlichen Beziehungen nicht auf der Basis von Erinnerungen und Zukunftsprojektionen kodieren, sondern hierfür ein eigenständiges System kontextübergreifender und generalisierter Repräsentationen anderer benutzen – ihr „Soziales Panorama“.4

Das „Soziale Panorama“ kann als eigenständige Entdeckung eines bislang – weder in der Psychologie noch im NLP bekannten – psychischen Systems betrachtet werden.

Zentraler Baustein der Theoriebildung Derks‘ ist die Entdeckung, daß Menschen dekontextualisierte „mentale Repräsentationen anderer“ – sog. „Personifikationen“ – benutzen, um ihre Beziehungen zu diesen zu repräsentieren. Die räumliche Struktur dieser mental projizierten „Hologramme“ fungiert als Wahrnehmungsfilter und steuert eine Reihe psychischer Grundfunktionen sowie das emotionale Erleben. (Unterstützung aus psychoanalytischer Sicht erfährt Derks‘ These durch das Konzept der „Mentalisierung“ von Peter Fonagy und Mary Target.)

Veränderungsarbeit erfolgt folgerichtig über die Ebene mental repräsentierter Beziehungen zu anderen und sich selbst. Veränderungen von „Personifikationskodierungen“ führen direkt zu einer Veränderung des subjektiven Beziehungserlebens und – in der Folge – zu einer unbewußt realisierten Veränderung des erwünschten Erlebens und Verhaltens selbst.

Zwei einführende Texte zum „Sozialen Panorama“ finden Sie unter dem Titel „Das Familiensystem im Sozialen Panorama“ sowie „… wir Menschen sind so unglaublich interessante Tiere! – Wolfgang Walker interviewt Lucas Derks“ im Internet.

  1. Derks’ Grundlagenwerk “The Social Panorama Model” (1997) wurde unter dem Titel „Das Spiel sozialer Beziehungen – NLP und die Struktur zwischenmenschlicher Erfahrung” (Klett-Cotta, Stuttgart 2000) ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht. Eine stark überarbeitete und aktualisierte Neufassung erschien 2005 unter dem Titel „Social Panoramas – Changing The Unconscious Landscape With NLP And Psychotherapy“ bei Crown House Publishing Ltd. (UK). Weitere Informationen sowie Texte und Videos zum Thema finden sich auf Derks‘ Website. []
  2. Vgl. dazu Dilts, Robert/ Bandler, Richard/ Grinder, John/ Cameron-Bandler, Leslie/ DeLozier, Judith: Strukturen subjektiver Erfahrung. Ihre Erforschung und Veränderung durch NLP. Junfermann, Paderborn 1985 (orig.: Neuro-Linguistic Programming: Volume I. Cupertino/CA: Meta Publications 1979), S.10ff []
  3. Bostic St. Clair, Carmen/ Grinder, John: Whispering in the Wind. J & C Enterprises, Scotts Valley/CA 2001, S. 349 []
  4. Die Notwendigkeit derartiger kontextübergreifender und zeitlich stabiler Bilder von anderen wird unmittelbar einsichtig, wenn man die Implikationen des klassischen NLP-Modells für soziale Beziehungen exploriert. Würden „Beziehungen“ tatsächlich nur in Form spezifischer Erlebnisse mit anderen repräsentiert, so wären stabile Beziehungen unmöglich! Wären konkrete Erlebnisse die einzige Form, in der „Beziehungen“ repräsentiert werden, dann würde die spezifische Reaktion auf eine reale Begegnung mit dem „Intimpartner aus Fleisch und Blut“ zu weiten Teilen davon abhängen, welche Erinnerungen der Partner – als externaler Auslöser – gerade bei einer Person stimuliert. Das assoziative Gedächtnis ist jedoch in hohem Maße vom emotionalen Zustand des Menschen abhängig. Würden ausschließlich Erinnerungen das Sozialverhalten einer Person steuern, so wären deren Reaktionen auf andere Menschen extrem stimmungsabhängig: Ist die Person gerade schlecht gelaunt, so würde sie spontan negativ besetzte Erinnerungen (Streitszenen, unangenehme Erlebnisse, …) mit ihrem Partner assoziieren. Sie würde ihm daher gereizt, aggressiv und voller Vorwürfe begegnen. Positive Aspekte der Beziehung würden weitgehend getilgt. Umgekehrt würde der Partner während eines Stimmungshochs fast nur positive Assoziationen auslösen. Er würde mit überschwenglicher Freude und liebevoller Zuwendung begrüßt. Aus Sicht des Partners würde die Person damit jedoch ein vollkommen unkalkulierbares Beziehungsverhalten an den Tag legen. Jede Begegnung wäre von der Frage überschattet, ob die Beziehung an diesem Tag eher Himmel oder eher Hölle ist. Die praktische Erfahrung zeigt jedoch, daß Menschen, die diesem Modell entsprechend funktionieren, eher die psychiatrischen Stationen und therapeutischen Praxen bevölkern, denn als repräsentativ für gelingendes zwischenmenschliches Beziehungsverhalten gelten zu können. []

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